Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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Holmi die Gläser bis zum Rand gefüllt hatte, stießen sie auf die alten Zeiten an.

      Im Halbkreis standen sie um den Schreibtisch herum.

      „Auf uns … und … auf den Grund unseres Zusammentreffens“, sagte Georgie mit Eiseskälte in seiner Stimme.

      Sein Blick prüfte die Jungs der Reihe nach.

      Nacheinander setzten sie sich, während erwartungsvolle Blicke sich tauschten. Georgie hielt den Kopf gesenkt und schwieg.

      Nur das Trommeln seiner Fingerspitzen bewegte die Luft zwischen ihnen. Die sekundenlange Stille zerrte.

      Kessie stellte sein Glas ab, während er Ulli ansah. Linkisch zwinkerte ihm Ulli zu.

      Seine rechte Augenbraue deutete auf die Weinbrandflasche und signalisierte ihm, noch einmal nachzuschenken. Erneut stießen sie an.

      Bis auf Georgie, der sein Glas stehen ließ.

      Sein Blickte ruhte auf der ausgebreiteten Tageszeitung vor ihm auf dem Schreibtisch. Es war die Ausgabe vom Dienstag vergangener Woche. Unten links auf der vierten Seite stand ein winziger Artikel, jedoch mit fettgedruckter Überschrift.

      Plötzlich begann er laut vorzulesen:

      TOTER IM HAK-WERK

      - Im HAK-Werk an der Essener Straße kommt es

      erneut zu unerklärlichen, tödlichen Unfällen.

      Gestern Vormittag wurde Paul S., 62, verheiratet,

      drei Kinder, tot in einer Werkshalle der Volkswagen

      AG aufgefunden. Das rechte Bein und die rechte

      Hand waren abgetrennt. Paul S. verblutete. Er wurde

      hinter einer hydraulischen Hebebühne gefunden.

      War es tatsächlich ein Unfall?

      Die Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus. Die

      Ermittlungen dauern an. Letztlich ist es das vierte

      Verbrechen in den vergangenen vier Wochen.

      Unerklärlich ist, dass bei allen Opfern die

      abgetrennten Körperteile spurlos verschwanden.

      Die Polizei bittet um Mithilfe, die zur Aufklärung

      führen. Es werden Zeugen gesucht!

      Während draußen gefeiert wurde, schwiegen sich die Jungs im Arbeitszimmer betreten an, bis Tommi das Schweigen brach:

      „Und wenn es sich doch nur um blöde Unfälle handelt? Das besagt doch nichts.“

      „Ja, das sind doch nur Vermutungen“, ergänzte Holmi den Einwand, „ich seh’ da auch keine Verbindung.“

      „Verbindung zu was?“ Ulli nahm die Zeitung und las den Artikel noch einmal laut vor, hielt dann aber inne und überlegte. Nachdenklich senkte er den Kopf, bis sein Gesicht plötzlich eine zuckende Grimasse aufsetzte und zwar zum Rhythmus der Musik draußen: „Georgie … du glaubst doch wohl nicht!“, er zog den rechten Mundwinkel bis zum Ohr hinauf und schnalzte dabei laut mit der Zunge, „nein, das kann nich’ sein!“

      „Was denn“, lenkte Tommi ungeduldig ein, „verdammt“, und Holmi stieß Ulli energisch gegen das Schienbein. „Nun sag’ schon, was denkst du!“

      „Oh, nein … ich glaube zu ahnen, was Georgie denkt … und auch du, Kess’“, abrupt richtete sich Ulli auf, stützte sich provokant auf dem Knie ab, „Ihr habt Euch doch immer mit diesem Mist beschäftigt oder etwa nicht?“, abwechselnd schaute er zu Georgie und dann wieder zu Kessie, der den Blick nicht von Georgie abwandte. „Wisst Ihr, was ich denke?“, sah Ulli die anderen an, „die beiden hier sind der festen Überzeugung, dass da im Werk ein guter Bekannter von uns rumläuft, mit ein paar netten Viechern, die ganz nötig ein paar frische Körperteile brauchen!“

      „Spinnst du jetzt?“, Tommi setzte sich ebenfalls auf.

      „Wieso, denk’ doch nach, Mann … Jedes Mal fehlen Körperteile …“, gestikulierte Ulli mit beiden Händen, „also jetzt seh’ ich das ganz klar“, dabei schoss ein schräger Blick zu Georgie, um Raum für eine Gegenreaktion zu schaffen, doch als diese nicht kam, fuhr er fort, „also ehrlich, Mann … das ist doch ’n bisschen flach! Oder krieg’ ich grad irgendwas nich’ mit?“

      Tommi wandte sich auffordernd an Georgie: „Nun sag’ schon … Glaubst du das im Ernst?“

      Nachdenklich sah dieser zu Tommi. Er ließ zerrende Sekunden verstreichen, bis er mit ruhiger Stimme sagte: „Ja, ich glaube … Nein, ich weiß, dass für diese Vorfälle nur einer infrage kommt. In den letzten Wochen war Kessie mehrmals im Werk. Zuerst hat er die Hunde bellen hören … und vor zwei Tagen dann …“, mit einer knappen Handbewegung forderte er Kessie zur weiteren Berichterstattung auf.

      Wider Erwarten schlug die Stimmung jetzt um.

      Auf einmal wirkte der Raum viel kälter und dunkler. Nur die Schreibtischlampe und eine Stehlampe in der Ecke waren eingeschaltet. Die Stehlampe leuchtete zu Boden, deshalb war der obere Teil des Zimmers in tiefes Schwarz getaucht.

      Während Kessie erzählte, sah er automatisch zu Tommi, da er sich erinnerte, dass Tommi panische Angst vor diesen Hunden hatte. Eine Mischung aus Rottweiler, Mastino und Bluthund, braunschwarz gefleckt, mit ungeheuerlichen Reißzähnen.

      Tommi sank auf seinem Stuhl zusammen, knetete wie mechanisch seine Hände zwischen den Knien.

      Eben diese Hunde trieben ihr Unwesen im Werk und nur für die Jungs waren sie sichtbar. Kessies Blick huschte zu Georgie, um sich mit einem flüchtigen Nicken die Erlaubnis zum Weiterreden zu erteilen: „Tage darauf saß ich auf unserem Beobachtungsturm und habe mich auf die Lauer gelegt.

      Na ja, und lange brauchte ich nicht warten.“

      Den Beobachtungsposten erreichten sie vom Dach einer riesigen Halle im Zentrum des Werksgeländes. Das Dach diente ihnen als Stützpunkt. Es bestand aus großflächigen Asbestzementwellplatten und dem seitlich gelegenen Schornstein … ihr Beobachtungsposten – er hatte auf halber Höhe eine Art Plattform, überdacht mit Wellblech, das einmal herumreichte. Ein verrostetes Geländer stützte das Wellblech. Außerdem diente es als Sichtschutz.

      Kurz nach 23 Uhr – er wollte sich gerade eine Zigarette anzünden – tauchten zunächst die grässlichen Viecher auf. Aus einem engen Durchgang zwischen zwei riesigen Lagerhallen traten sie, am Boden schnüffelnd, auf den schwach beleuchteten Platz heraus. Vor Schreck ließ er das Streichholz fallen und duckte sich. Die Hunde folgten irgendeiner Fährte. Wild hetzten sie hin und her.

      Und einige Augenblicke später erschien das uniformierte Grauen in Person … Ebling!

      Kessie war, als hätte er gerade mit zwei Fingern gleichzeitig in eine Steckdose gefasst.

      Während Tommi gebannt zuhörte, schob er instinktiv seine Schirmmütze nach rechts, indem er mit Zeigefinger und Daumen den Schirm fasste, als wollte er eine Spinne zerquetschen. Das erinnerte an vergangene Zeiten und schleuderte die Jungs in einen verhängnisvollen Erinnerungsstrudel.

      Ebling war also zurückgekommen und zweifellos gingen die Unfälle auf sein Konto. Doch was ließ ihn alle vier Jahre zurückkehren?

      Tief versunken saß Georgie in dem alten, zerschlissenen Bürosessel und beobachtete seine Freunde, während Kessie weiterredete. Seine Freunde. Ja, wahrhaftig, das waren sie. Die Fünf, zu denen Kessie zwar nicht wirklich gehörte, da er nicht aus der Siedlung war. Matjes fehlte.

      Doch allen war jetzt anzusehen, dass sie sich zunehmend an die schrecklichen Erlebnisse erinnerten.

      Tommi und Holmi klebten an Kessies Lippen, schienen von Panik berührt, ihre Münder weit geöffnet, fassungslos die Augen geweitet. Ganz im Gegenteil zu Ulli, der konzentriert zuhörte. Er wirkte entspannt, so als würde ihm gerade der Schaltplan eines Kofferradios erklärt.

      In der Dämmerung konnte


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