Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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eine bessere Rutschfestigkeit zu erlangen und um sich nicht an den scharfen Kanten zu verletzen. Außerdem bekam er durch den Fingerhut den speziellen Dreh.

      „Georgie … solche Scheiße darf uns nicht noch mal passieren“, sagte Ulli, „Der Preis war echt zu hoch!“

      Georgie entgegnete: „Wir haben den Scheißkerl total unterschätzt. Wir sind da blind reingestolpert“, dabei sank er noch tiefer in den Sessel.

      „Aber Ihr habt ihn doch so lange beobachtet … Die ganze Zeit vorher“, stellte Tommi fest, wobei er hastig an seinem Glas nippte und tonlos gluckste, „habt Ihr doch gesagt, oder?“

      „Oben, ja … aber unten in den Bunkern?“, Georgie stockte und sah hinüber zur Tür. Er legte den Kopf schräg und lauschte.

      „Was ist?“, fragte Kessie.

      „Nichts, denke ich“, antwortete Georgie tonlos, aber für weitere Sekunden hing sein Blick an der Zimmertür. Er hatte das Gefühl, als stünde jemand bei der Tür, aber schon im Zimmer – drüben im Halbdunkel. Eine weitere Erkenntnis spülte an die Oberfläche: Wir müssen das alles so hinnehmen, wie es ist … schon allein, dass wir jedes Mal ins Jahr 1944 springen, wenn wir über die Mauer klettern. Das ist doch ’n Hammer … und das alles passiert nur uns … Das muss doch irgendwas bedeuten!

      Er richtete sich auf, löste den Blick von der Tür und sah seine Freunde der Reihe nach prüfend an, dann sagte er: „Auch ich hatte da unten eine Scheißangst“, dabei griff er nach seinem Glas, „als Ebling plötzlich auftauchte und der ganze Zauber losging.“

      Gerade, als er einen Schluck nehmen wollte, stockte er erneut. Sein Blick schoss zurück zur Tür. „Wo zum Teufel steckt bloß Matjes!“

      Im selben Augenblick explodierte ein gewaltiger Erinnerungsbrocken in seinem Kopf, ein Mosaikstein tauchte hinauf zur Oberfläche seines Bewusstseins und ließ sich problemlos in das Puzzle einfügen. Wie vom Schlag getroffen musste er feststellen, dass nur noch wenige Steinchen fehlten, um das gesamte Bild in der Totalen zu betrachten.

      Wie konnte ich das alles nur vergessen, dachte Georgie. Ich wollte Ebling damals aus einem ganz anderen Grund auslöschen – nicht, um mich als Held oder als Retter zu sehen, im Gegenteil: Ich wollte meine eigene Haut retten, wollte diese bleischwere Last von meinen Schultern stoßen, die seit Jahren auf mir hockte, mich unermüdlich ritt. Mir wurde klar, dass eigentlich nur fünf Personen in dieser Geschichte eine Hauptrolle spielten und ich erkannte, dass ich allein den weiteren Verlauf nicht bestimmen, das Blatt ohne die Hilfe meiner Freunde nicht wenden konnte.

      Schlussendlich habe ich sie also nur deshalb getestet?

      Ich brauche Hilfe, wusste er. Seine Hand fuhr sich über die Lippen, als wollte er etwas Klebriges wegwischen.

      Die Hilfe seiner Freunde musste diesmal bedingungslos sein.

      Mehrmals hatte er sie getestet, daran konnte er sich wieder erinnern – und das bereits zu einer Zeit, wo er selbst überhaupt nicht ahnen konnte, was sie noch für einen schicksalhaften Weg gehen sollten.

      Alle vier Jahre kommen also die Schübe – und sie kündigen sich vorher an, reißen Türen und Tore auf und bald darauf passiert etwas Schreckliches. Dann ist es immer derselbe Ablauf und danach vergessen sie alles wieder.

      Doch wegen Kessie und Matjes griffen fortwährend lästige Zweifel nach seinem Verstand. Irgendwas passte nicht ineinander … passte nicht zusammen. Am Anfang war ihr Vergessen nicht vollständig. Das kam erst nach Kahlis Tod.

      Jetzt war ihm klar, dass die Vorboten immer aus der näheren Umgebung kamen – entweder Tante Irmtraut, die ihm eindeutige Hinweise zusteckte. Doch am Ende war es dann meistens Kessie, der die Meldungen brachte, oder … Betty? Ja, verdammt, Betty! Wieso kam er gerade jetzt auf Betty?

      Was Tante Irmtraut mit alldem verband, wusste er mittlerweile. Sofort einen Tag nach Kessies Anruf suchte er sie auf, erzählte ihr alles, an was er sich erinnerte, und verlangte das gleiche von ihr und endlich rückte sie mit ganzen Wahrheiten heraus.

      Doch was zum Teufel hatten Kessie und Betty mit alldem zu tun? Welche Rolle spielten sie in dieser üblen Geschichte, die vermutlich so irre weit in die Kindheit zurückreichte?

      Tief drückte er sich in den zerschlissenen Bürosessel und beobachtete Kessie im Augenwinkel. Das alles brachte er noch nicht klar zusammen. Wirre Gedankenfetzen peitschten sein Hirn, während die Unterhaltung an ihm vorbeirauschte und nur schwer in den dunklen Ecken des Zimmers verhallte.

      Warum war Kessie in dem dunklen Gang des Bunkers zurückgeblieben? Warum ist nur Kahli allein losgerannt? Oder als Kessie und ich vor dem Kalender von 1944 standen, in der Werkstatt, unten im alten Verwaltungsgebäude – bei den Eisentüren, die zu der Gasschleuse führten, da war Kessie auch plötzlich verschwunden.

      Wusste er vielleicht mehr von all dieser Scheiße, als er vorgab? Zum Beispiel was Tante Irmtraut betraf? Aber wie, verdammt! Damals, einen Tag vor Kahlis Verschwinden, waren Kessie und ich zusammen im Werk. Wir nahmen den geheimen Durchgang auf der Vorderseite. Damals war es doch Tante Irmtraut, die mich dazu brachte. Das ich an diesem Tag Kessie mitnahm, entschied ich doch ganz spontan.

      Wenn ich aber jetzt die Umstände genauer betrachtete, war Kessie jedes Mal dabei. Nur das eine Mal nicht … vor acht Jahren, als sie Kahli plötzlich verloren hatten, ihn aber später wiederfanden.

      Das war das erste Mal, als ich Euch über das Bahngelände und hin zur Mauer brachte, von wo man am besten das Werksgelände betrat.

      Ja, nur das eine Mal war Kessie nicht dabei!

      Aber was verdammt war mit Betty? Georgie konnte die Zusammenhänge noch nicht greifen. Vor vier Jahren besuchte er Tante Irmtraut zuletzt in ihrem Haus in Langenhorn. Und noch vor zwei Tagen waren diese Besuche gänzlich aus seinem Gedächtnis gewischt.

      Jetzt passte alles wieder zusammen. Damals wurde er Zeuge einer schrecklichen Auseinandersetzung. Es war eine Vergewaltigung. Sein Auftauchen verhinderte das Schlimmste und es endete mit einer grausigen Tat. Zuerst war er nicht imstande, einzugreifen. Hilflos musste er alles mit ansehen. Eine fremde Kraft lähmte ihn. So wie damals, als Kessie und er den unheimlichen Uniformierten und die Hunde zum ersten Mal sahen.

      Wo aber war Kessie in diesem Moment? Hatte er das alles ebenfalls mitbekommen? Was war mit ihm passiert? Schließlich musste er ja irgendwo abgeblieben sein! Warum kam er später die Treppe herunter?

      Und warum konnte er sich an nichts erinnern?

      Während er versuchte, die Erinnerungsfetzen zusammenzuflicken, sank er tief in den Bürosessel und ließ Kessie dabei nicht aus den Augen.

      Auch Kessie entging keine Bewegung von Georgie, während die anderen angeregt weiterredeten.

      Derweil brüstete sich Holmi mit seiner Technik im Umgang mit den Messingscheiben.

      Georgie erinnerte sich plötzlich an ein anderes Erlebnis.

      Er tauchte ab in die Vergangenheit … zu einem Tag, den er nicht nur mit Kessie erlebte – es war früher Nachmittag, als sie sich durch den geheimen Durchgang zwängten und zur alten Konservenfabrik rannten … Nur diesmal wirkte alles anders. Es schien zwar dasselbe Gebäude, aber irgendwie war alles wie ausgetauscht.

      Die Schilder waren nicht da … nur ein … Nein, das war kein Schild! Auf dem rostroten Mauerwerk der Fabrikhalle leuchteten die protzigen Buchstaben: HALLE 4.

      Gehetzt schossen ihre Blicke umher, während sie gebückt weiterrannten – das Gelände war ihnen nicht fremd, doch alles wirkte irgendwie neuer, grauer, kälter. Rechterhand registrierten sie zwei altmodische Limousinen, die Georgie aus alten Spielfilmen kannte. Doch das konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

      Sie rannten vorbei an dem ersten Löschwasserbassin, das ebenfalls verändert schien. Es war gepflegt, keine Spur von Unkraut. Kaum Gestrüpp und die ausladenden Bäume auf der Böschung gab es nicht.

      Sie sahen sich kurz an, blieben aber nicht stehen. Sie rannten weiter.

      Bald darauf erreichten sie den


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