Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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Beweis ließen sie den Toten im Sender zurück. Man sollte glauben, dass polnische Soldaten die Grenze zu Deutschland überquert hatten. Schon im Morgengrauen des folgenden Tages, es war der 1. September, marschierten deutsche Truppen über die Ostgrenze in Polen ein. Daraufhin erklärte England und Frankreich zwei Tage später den Deutschen den Krieg, doch das nur, weil beide Länder nicht sofort den vereinbarten Entlastungsangriff vom Westen her angegangen waren. Damit kamen sie offiziell ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber Polen nicht nach, was wiederum ganz im Sinne der deutschen Führung war, die wohlweislich derartige Reaktionen in ihre lang vorbereiteten Kriegspläne einkalkuliert hatte.

      „Mann, das wusste ich gar nicht“, flüsterte Holmi ergriffen und lehnte sich zurück, „kannst mal sehen … diese verschissenen Schweine.“

      „Offiziell war der Krieg demnach von zwei Seiten erklärt und die Nachricht breitete sich wie ein Lauffeuer aus, in die zusätzlich noch Brandbeschleuniger gekippt wurde. Längst hatte das Zeitalter des Rundfunks Einzug in die deutsche Stube gehalten. Der Volksempfänger war eine Pflichtanschaffung und wurde von der Regierung skrupellos ausgenutzt, um die revolutionierenden Parteien mit gezielten Propagandaparolen zu beeinflussen.

      Daher hieß dieser kleine Holzkasten so treffend: Goebbelsharfe …“

      „Was Besseres ist denen nich’ eingefallen?“, warf Ulli witzelnd dazwischen, „… aber passt ja.“

      Sofort blitzten zwei Augenpaare auf, während Georgie gar nicht erst reagierte: „In den Schulen erfuhren die Kinder nur Gutes über den herrschenden Hitlerfaschismus. Fortan bestimmten klare Verhaltensmaßregeln den öden Lernstoff und lockerten ihn gezielt auf.“

      „Ist ja heute nich’ anders, oder?“ Noch während er den Satz aussprach, warf Ulli sich auf die Matratze zurück und winkte entschuldigend ab, dass er jetzt damit aufhören würde.

      „Uniformen wurden eingeführt, die die jungen „Pimpfe“ mit Stolz trugen. Ihnen wurde früh die nötige Loyalität eingetrichtert. Und somit avancierte die Hitlerjugend rasend schnell zu einem Statussymbol. So schnell wie möglich dazuzugehören, war angestrebtes Ziel.

      Doch die eigentliche „Tottäuschung“ begann viel früher.

      Eigentlich wurde sie durch den sogenannten „Schwarzen Freitag“ ausgelöst und das war nicht etwa ein dämonischer Freitag der 13., sondern der katastrophale Börsensturz vom 24. Oktober.

      Ein Donnerstag und der folgenschwere Freitag, der 25. Oktober 1929 bescherten in den USA der ewig blühenden Konjunktur das ohnmächtige Ende. Das war also fast auf den Monat genau zehn Jahre früher. Unaufhaltsam breitete sich eine Weltwirtschaftskrise aus, die die schwer verschuldeten Industrienationen Europas und ganz besonders Deutschland hart trafen. Bald gab es über sechs Millionen Arbeitslose im Land. Für Hitlers Nationalsozialisten war das der saftige Nährboden, auf den er gewartet hatte, um ihre demagogischen Parolen herauszuschreien und der resignierten Bevölkerung schnelle, wirtschaftliche Besserung zu versprechen.

      Ein Heer von Unzufriedenen stürmte Hitler in Scharen zu, viele ehemalige Frontsoldaten folgten seinem Aufruf, ebenso Abertausende nationalistische Kleinbürger, die längst den Glauben an die Reichsregierung verloren hatten. Immer wieder hielt Hitler große Massenveranstaltungen ab, auf denen er endlich die Faszination und die Auswirkung von Macht genoss. Hier ließ er sich feiern. Hier wuchs er über sich hinaus. Schon 1932 bildeten Hitlers Nationalsozialisten die stärkste Fraktion im deutschen Reichstag, machten sich vorübergehend die Kommunisten zum Verbündeten und verhinderten somit, dass im Parlament weiterhin konstruktiv entschieden wurde. Schlussendlich folgte am 30. Januar 1933 die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Der Startschuss für die nicht mehr aufzuhaltende Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war gefallen. Hier genau verselbstständigte sich die „Tottäuschung“. Mit der anfangs noch geschickten Vorgehensweise des in Wirklichkeit hochgradig persönlichkeitsgespaltenen Fanatikers wurden die entmutigten Bürger geblendet. Tagtäglich tönte die Stimme des „Führers“ (Sei still! Der Führer spricht!) oder die seiner engsten Gefolgsleute aus den hölzernen Goebbelsharfen. Der Namensgeber Dr. Joseph Goebbels war ein hochgradig begabter Redner mit der geradezu fesselnden Stimme eines Bayreuther Theaterschauspielers. Er war Hitlers Chefpropagandist. Und er war ebenfalls beladen mit schwersten Neurosen. Aber durch diesen Status erlebte sein all die Jahre geschundenes Selbstwertgefühl zu der Zeit nicht mehr kontrollierbare Höhenflüge. Und das steckte an. Das Volk sah diesen schmächtigen, unterernährten, kleinen „Klumpfuß“ ja niemals wirklich aus der Nähe. Man hörte ihn nur.

      Er war die globale Verkörperung des kleinen Mannes und er zeigte den Deutschen, dass man deshalb noch lange nicht schwach zu sein hatte. Die Propagandastrategie für den entmutigten Deutschen ging also tatsächlich auf. Und schließlich schloss sich der enge Kreis um Hitler mit dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und dem späteren Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring. Eine verschworene Clique von ewig Verspotteten, ewig Missachteten, ewig Belächelten und gefährlich Kranken begann allmählich, Gott zu spielen. Systematisch wurden die Deutschen und zunächst die Reichswehrführung auf den geplanten Raubkrieg vorbereitet. Am 3. Februar 1933 legte Hitler seine ausgearbeiteten Pläne vor, die ausdrücklich besagten, dass er einen endgültigen Strich unter die fortwährende Sozialisierung der Wirtschaft durch die Diktatur des Proletariats, der Arbeiter und der ohne fremde Hilfe arbeitenden Bauern forderte, was die Ausrottung des Bolschewismus bedeutete. Außerdem kündigte er den Kampf gegen den Versailler Vertrag an, der besagte, dass Deutschland lediglich eine Reichswehr von 100.000 Berufssoldaten ohne Panzer, schwere Artillerie oder Flugzeuge mit einer Marine von 15.000 Mann halten durfte. Laut Friedensvertrag war der Aufbau einer Luftwaffe untersagt. Darüber hinaus forderte Hitler die strategische Eroberung von „Lebensraum“. Zugleich wurde im Volk die ideologische Bereitschaft geschürt, bedingungslos in den totalen Aggressionskrieg zu folgen. Natürlich gab es ein angestrebtes Ziel, und zwar die absolute Vorherrschaft in Europa. War das …“, Georgie schaute auf, weil sich Matjes aufrichtete. Sofort erhob sich auch Tommi.

      „Das ist ja echt ’n Hammer, Mann“, meinte Matjes nachdenklich, während er nach der großen Cola-Flasche griff, in der nicht nur Cola war. Er hatte hochprozentigen Rum besorgt und direkt in die Flasche gemischt, nachdem er ihr einen großen Schluck entnommen hatte, „… Los … Lies’ weiter“, während er die Flasche weiterreichte.

      Georgie schaute wieder auf die Seite, suchte die Zeile und fuhr fort: „War das erst einmal erreicht, wollte man endlich die Sowjetunion vernichten. In Deutschland entstand ein irrsinniges Chaos, was bald in todesangstähnliche Einschüchterung wechselte. Der schnell wachsende Terror von Sturmabteilungen und eilig aufgestellten Schutzstaffeln, kurz SA und SS genannt, nahm beinahe über Nacht zu. Am Montag, dem 20. März wurde auf Anordnung von Heinrich Himmler das erste KZ-Lager in Dachau errichtet. Allein vom Ermessen Himmlers und seines Sicherheitsapparats hing es ab, wer in das KZ-Lager deportiert wurde. Zeitweise „politische Schutzhaft“ hieß es für politisch verdächtige Personen, um das Aufbauwerk der Hitlerregierung nicht zu gefährden.

      Für die rechtliche Grundlage wurde schnell gesorgt: Eine Notverordnung wurde ausgerufen, mit der man das Grundrecht der persönlichen Freiheit aufhob. Nur knapp einen Monat später, am 23. März 1933 wurde im Reichstag das sogenannte Ermächtigungsgesetz angenommen, obwohl die Sozialdemokraten dagegen gestimmt hatten. Dieser Schachzug verschaffte Hitler und seiner verschworenen Clique letztendlich die erstrebten diktatorischen Vollmachten. Ein großer Schritt in Richtung Diktatur war getan. Kurz darauf begannen die Vollmachten Wirkung zu zeigen. In Buchläden wurden „Schwarze Listen“ mit den Namen und Titeln „undeutscher“ Schriftsteller veröffentlicht und nur einen Monat später, am 10. Mai 1933 fand auf Veranlassung von Dr. Joseph Goebbels in Berlin die große Bücherverbrennung statt. Was aber schlussendlich mit zur großen Ohnmacht im Land beitrug, geschah nur einen Monat später, um genau zu sein am 22. Juni 1933, und zwar wurden beginnend mit der SPD alle anderen Parteien verboten. In teuflischer Geschwindigkeit wurden weitere KZ-Lager aus dem Boden gestampft, die sich im Deutschen Reich wie hässliche Leberflecke ausbreiteten. Nur wenige Tage später wurde die NSDAP zur deutschen „Staatspartei“. Schnell war die SA zu einer ernstzunehmenden Armee mutiert, der die Freiwilligen in Scharen zuliefen. Ihr Stabschef Ernst Röhm trug sich längst mit der Vision, zweitmächtigster Mann im Reich zu werden,


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