Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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zu. Er legte es beiseite und sah auf. Langsam schaute er sich um. Die letzten Minuten hatten Ulli und auch Holmi und Tommi aufmerksam zugehört, als hätte Georgie gerade aus der Offenbarung von Johannes vorgelesen. Matjes fand das Thema ohnehin höchst interessant, da es um Kriege und Strategien ging. Gerade hatte er wieder die Cola-Flasche angesetzt und einen langen Schluck genommen. Er rülpste kurz.

      „Na, ich sage Euch“, wollte Ulli die Stimmung lockern, „das ist ’n ganz schön starker Tobak, was? … Oder nich’?“, und als hätte man ihn umgehauen, lehnte er sich zurück.

      Und ich sah ein anderes Tier aufsteigen aus der

      Erde; das hatte zwei Hörner gleich wie ein Lamm

      und redete wie ein Drache.

      … und verführt die auf Erden wohnen, um der

      Zeichen willen, die ihm gegeben sind zu tun vor

      dem Tier; und es macht, dass die Kleinen und Großen,

      die Reichen und Armen, die Freien und Knechte,

      allesamt sich ein Malzeichen geben an ihre rechte

      Hand oder an ihre Stirn, dass niemand kaufen oder

      verkaufen kann, er habe denn das Malzeichen,

      nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens.

      Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege

      die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen

      Zahl, und seine Zahl ist

      sechshundertundsechsundsechzig.

      Die Offenbarung des Johannes -

      „Die beiden Tiere“

      Kapitel 13/Vers 11/14/16/17/18

      Ebling

      Der Anfang

      4. Juni 1919

      Kapitel 9

      Für Walter Ebling war es eigentlich ein besonderer Tag, doch an seinem 22. Geburtstag schien nicht einmal die Sonne. Es war ein kalter, unbehaglicher Regentag – ungewöhnlich für diese Jahreszeit, da noch Tage zuvor das Thermometer die Weichen für herrliche Sommertage gestellt hatte.

      Er war mutterseelenallein in einer fremden Stadt und für ihn sollte sie fremd bleiben. Nur eine halbvolle Rotweinflasche leistete ihm Gesellschaft und nirgends gab es Aussicht auf eine bessere Bekanntschaft. Spöttisch und siegessicher hatte er vor Monaten Hamburg den Rücken gekehrt. In Berlin wollte er sein Glück finden. Vielmehr war es aber auch ein Befreiungsschlag, endlich vom Elternhaus gelöst sein. Somit fühlte er sich nicht als Obdachloser, wenngleich er die Nächte in zugigen Hausfluren und grauen Hinterhöfen verbrachte.

      Längst war sein bisschen Geld durchgebracht.

      Der bei weitem nicht ruhmreiche Rückzug von der Front spuckte ihn dicht am Brandenburger Tor aus, wo er sich inmitten chaotischer Zustände wiederfand. Die Stadt war gebeutelt von Demonstrationen und Straßenschlachten.

      Alle hatten sich vom Waffenstillstand ein akzeptableres Ende erhofft. Doch die verheerenden Unruhen in den zentralen Großstädten und ganz besonders in Berlin, die schon während des Krieges wieder und wieder eskalierten, drohten am Ende die wenigen Hoffnungen auf einen ertrotzten Frieden zu zerschlagen. Noch Wochen vor dem Waffenstillstand – niemand konnte voraussagen, dass er schon so bald geschlossen wurde – sah sich Ebling an einem der vorderen Frontabschnitte wieder.

      Es war die Antwerpen-Maas-Stellung.

      Enttäuscht musste er jedoch feststellen, dass dort bereits die letzten Kampfhandlungen loderten. Er kam nicht mehr in den Genuss, sein blankpoliertes Gewehr zu benutzen. Geschlagen und todmüde kamen ihm die Fronttruppen entgegen. Das Heer war ausgedünnt und angefressen. Sehr einsilbig machte man ihm verständlich, dass die Lage trostlos wäre. Schließlich entschied man sich, gemeinsam dem Ende entgegen zu trotzen.

      Das alles konnte Ebling nicht mit bloßem Verstand verarbeiten.

      Viel zu gerne wäre er zu dem Zeitpunkt allein an die Front gestürmt und hätte seinem Vaterland alle Ehre erwiesen. Er wollte sich nicht damit zufrieden geben, dass sich das eigene Heer so jämmerlich zurücktreiben ließ.

      Stattdessen saß er da, hoffend auf einen ehrenvollen Frieden? Nein! So konnte das nicht zu Ende gehen!

      Natürlich hatte er keine blasse Ahnung davon, was währenddessen im Heimatland vor sich ging. Selbst der erhoffte ehrenvolle Frieden war äußerst umstritten, da sich die revolutionären Unruhen nicht mehr niederschlagen ließen. Die Spannungen in den Großstädten und ganz besonders in Berlin stiegen auf ein derartig gefährliches Maß an, dass der geschwächten Regierung keine andere Wahl blieb, als die kettenschweren Bedingungen für einen Waffenstillstand zu akzeptieren.

      Schließlich wurde am 11. November 1918 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet.

      Welche Verlogenheit, was für eine Untreue, dachte Ebling. Das konnte er nicht einfach so hinnehmen und deshalb verlor er da draußen im schlammigen Erdreich jeglichen Halt zum Vaterland. Mit jeder Sekunde starb das Vertrauen an die Regierung ein bisschen mehr. Selbst den Weg zurück nach Hamburg ins Elternhaus fand er nicht wieder.

      Das war nicht mehr sein Weg.

      Mit zwei Frontsoldaten war er in Berlin gestrandet, wo er sich zunächst viel erhoffte, ihn aber das Arbeiterviertel mit weit aufgerissenem Schlund nahe des Kreuzbergs verschlang und wider Erwarten musste er sogleich die zweite große Schlappe einstecken.

      Er fand sich nicht mehr zurecht. Die verhängnisvollen, politischen Zusammenhänge und Hintergründe waren ihm eher suspekt. Er konnte nicht begreifen, dass von irgendwoher immer wieder neue Unruhen, Streiks und massive Demonstrationen angezettelt wurden. Und weil die Intelligenz nicht sein Wegbegleiter war, wollte er wenigstens das endlich ändern. Als Soldat kam er schon nicht zum Einsatz … Sein Leben brauchte endlich eine Wende.

      Das war Ende November 1918.

      Ausgehungert und ohne einen Pfennig in den Taschen kauerte er auf den oberen Stufen einer Hintertür in einem düsteren und obendrein zugigen Gewerbehof mitten im Zeitungsviertel. Und als er müde durch die Toreinfahrt zu diesem Hinterhof taumelte, hatte er allem den Rücken gekehrt. Längst hatte ihn der ungeheure Sog hinab zu den radikalen Gruppen aufgespürt und umschmeichelte ihn auf den Stufen wie der lauwarme Windzug einer späten Sommernacht. Er ließ es geschehen. Die feuchte Luft, die er einatmete, war vom beißenden Geruch der Druckerschwärze geschwängert.

      Der STAHLHELM, eine Untergrundbewegung, hatte in dem Gewerbehof sein pulsierendes Herz verborgen. Er schloss sich ihm an und beteiligte sich lauthals an zahlreichen Demonstrationen, obwohl sich seine politischen Aktivitäten bis dato doch eher auf das Beschmieren von Toilettenwänden begrenzten. Jetzt verteilte er Hetzblätter und im Gegenzug erhielt er eine warme Mahlzeit. Einige Wochen darauf ging er zur Volksmarinedivision, weil er gehört hatte, dass man dort sogar einen trockenen Schlafplatz erhielt … düster zwar und kalt, dafür aber trocken.

      Während einer Kundgebung geriet er in ein tragisches Handgemenge, das für ihn blutig endete. Und noch ehe sie richtig begonnen hatte, stoppte ein glatter Nasenbeinbruch seine politische Karriere radikal.

      Er wachte im Hospital wieder auf. Zwei geprellte Rippen und mehrere tiefblaue Blutergüsse veranlassten ihn, seine Prinzipien, falls er jemals welche hatte, neu abzustecken. Er musste seine Zukunft neu planen.

      Derzeit schlugen die Zeitungen mit der wohl aktuellsten Schlagzeile um sich: die Ermordung des Präsidenten des Freistaates Bayern und zwar durch einen Adligen, den Grafen Arco.

      Also auch ein Graf ist zu solchen Taten fähig, dachte Ebling.

      Das beeindruckte ihn zutiefst und es brauchte keine lange Bedenkzeit für einen spontanen Entschluss. In München würde er sich politisch neu orientieren. Ja, München sollte es sein, wo er einen Neuanfang machen wollte. Anfang 1919 machte er sich auf den Weg.

      Sein Begehren war der


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