Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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danke, dass du uns die ganze Zeit in Ruhe gelassen hast.“

      „Vergiss’ es“, entgegnete Georgie mit ruhiger Stimme, jedoch den Blick jetzt hebend. Doch die Art, wie seine Augen ihn ausradieren wollten, war erschreckend.

      Kessie kam ein paar Schritte näher und fragte: „Was is’ los, Mann?“

      „Setz’ dich.“ Er schob Kessie einen der Klappstühle hin. „Sag’ mal … Wie war das eigentlich damals im WILKONS-Haus? … Du weißt schon, als wir durch das Fenster eingestiegen sind?“

      Verwirrt neigte Kessie den Kopf zur Seite. Den Gedankensprung hatte er nicht erwartet.

      „Was meinst Du?“

      „Kess’, erinner’ dich …“, Georgies Blick versprühte Kälte und Hitze zugleich. „Es war plötzlich so eine Art Abstellraum und das WILKONS-Haus sah auch anders aus, nicht so, wie wir es kannten … Wo warst du auf einmal?“

      „Hmm, also ich weiß nich’ …“

      „In dem Flur warst du nicht mehr hinter mir“, er beugte sich vor, „erst viel später als ich hinten bei der Treppe war, kamst du von oben runter.“

      „Na ja, ich …“

      „Du warst nicht hinter mir“, wiederholte sich Georgie.

      „Meinst du, als wir … na ja …“

      „Du weißt genau wann!“

      „Ich hatte dich wohl kurz verloren“, sein Blick flackerte, „ich weiß nicht mehr so genau.“

      „Was soll das“, empörte sich Georgie, „ich bitte dich … mich verloren. Wir standen doch beide vor der Tür mit dem Kalender. Der Kalender von 1944. Dann habe ich die Tür geöffnet. Bist du etwa in der Abstellkammer geblieben?“

      „Ja, vielleicht … Ich weiß nicht mehr.“

      „Und wie lange?“

      „Was heißt wie lange!“, Kessie spielte weiter die Rolle des Verwirrten.

      „Ja, wie lange hattest du mich verloren?“

      Kessie sah zu Boden, fuhr sich mit der Hand durch die zerwühlten Haare, doch sein Gesicht trug einen merkwürdigen Ausdruck, der Georgie zweifeln ließ. Irgendwas verheimlicht er mir, dachte er, wartete dennoch Kessies Antwort ab.

      „Ich kann das jetzt gar nicht mehr genau sagen. Ein paar Minuten vielleicht?“

      „Ein paar Minuten? Hah … dann hättest du was hören müssen!“

      „Ich hab’ nichts gehört … Was soll ich denn gehört haben, verdammt?“ Dabei ging sein Blick hinüber zur Tür.

      „Mann, nun tu’ nicht so unwissend! Irgendwas musst du gehört haben, wenn du in der Nähe warst!“, abrupt stand Georgie auf, ging hinüber zur Abstellkammer. Er zauberte eine angebrochene Flasche Weinbrand hervor. „Und du musst was gesehen haben!“

      Aufmerksam beobachtete Kessie seinen Freund. Erst Sekunden später antwortete er: „Hee! Was soll die Fragerei?“, stand jetzt ebenfalls auf. Instinktiv spähte er nach Gläsern.

      Er fand welche in der Spüle. Eilig spülte er zwei Gläser ab, ließ sie sorgsam abtropfen, als wollte er Zeit gewinnen. „Was zum Teufel soll ich gesehen oder gehört haben?“

      Nach diesem Satz erst drehte er sich um.

      „Schreie, Gepolter, lautes Krachen … Stimmen … irgend so etwas.“

      „Nein! Verdammt!“ Kessies Gesicht zuckte gespannt.

      „Das ist unmöglich“, bis zum Rand schenkte Georgie die Gläser voll, „vielleicht ist es dir noch nicht wieder eingefallen?“

      „Ich … ich kann …“

      „Du musst versuchen, dich zu erinnern, Kess’.“

      „Ich …“, Kessie marterte sein Hirn, „es geht nicht, Mann!“

      Georgies Blick durchdrang ihn: „Dann erzähl’ ich dir, was da passiert ist … Dann kommt es dir vielleicht.“

      Er nahm einen kräftigen Schluck und verzog unmerklich den Mundwinkel.

      „Wenn dir das was gibt.“ Bei dieser Antwort vermied Kessie den direkten Blick.

      Da ist irgendwas und ich weiß ganz sicher, dass da was ist, aber verdammt noch mal, ich krieg’s nich’ zusammen!

      „Also, ich bin ’raus auf den Flur … langsam an der rechten Wand lang“, begann Georgie, während sie sich wieder auf die Klappstühle setzten, gerade als Betty aus dem Arbeitszimmer kam. Eilig begann sie, sich zu ordnen. Ihre Befriedigung war von felsenfester Genugtuung getragen. Gedankenversunken steckte sie die Haare hoch, zupfte den beigefarbenen Rollkragenpullover zurecht, der jetzt nicht mehr so eng an ihr saß.

      Sie blickte zu Boden.

      Auch sie war barfuß.

      In der Küche hörte sie Stimmen. Von dort kam auch das einzige Licht, also steuerte sie diese Richtung an, wobei sie vorsichtig einen Schritt nach dem nächsten machte. Je mehr sie von dem Wortgeflimmer verstand, desto langsamer wurden ihre Schritte, bis sie ganz stehen blieb und lauschte.

      Jetzt verstand sie jedes Wort.

      „In dem einen Raum … Da hat ein schlimmer Kampf stattgefunden … Mein Kinderzimmer …Bloß da war es irgendwie nicht mein Zimmer, jedenfalls stand auf ’nem Schild an der Tür:

      DIENSTZIMMER 4/Arbeitsaufsicht – W. EBLING.“

      Als Georgie die letzten Worte ausgesprochen hatte, sah Kessie aufgeschreckt zur Seite, aber gerade, als er etwas sagen wollte, trat Betty auf die Türschwelle. Sie richtete ihre Frage direkt an Kessie: „Wer, bitte ist W. Ebling, eine Frau? Eine Freundin?“, ein scharfer, nicht allzu fester Blick streifte Georgie wie im Sturzflug.

      „Wie lange stehst du da schon?“, fuhr Kessie herum.

      „Lange genug“, entgegnete sie knapp. Ihre Stimme klang gelassen.

      Intuitiv zog es Georgie vor, das Thema zu wechseln: „Nein, nein, das ist ein Mann, ein gemeinsamer Bekannter“, dabei sah er zu Kessie und erhob sich. „Kommt Leute, wir räumen hier noch ’n bisschen auf. Den anderen Kram mache ich morgen … oder vielmehr nachher … Wir haben ja schon morgen.“

      Mit dem typischen Augenaufschlag einer Frau kam Betty der Aufforderung nach. Wortlos schnappte sie sich eines der Geschirrhandtücher, die neben der Tür hingen. Dann ging sie hinüber zum Waschbecken. Schweigend begann sie mit dem Abwasch, wobei sie den beiden den Rücken zukehren musste. Das war ihr ganz recht so, sonst hätten sie womöglich das verhaltene Lächeln um ihre Mundwinkel bemerkt. Sie hatte genug gehört.

      Aus irgendeinem Grund vermied es Kessie, einfach zu ihr hinüber zu gehen, sie zu umarmen oder nur sie zu berühren – wie es Verliebte eben tun. Vielleicht tat er es nicht aus Respekt vor Georgie.

      Oder aber auch deshalb, weil Betty ihm unmissverständlich signalisierte: Komm’ mir nie wieder zu nahe, du Clown!

      Für mehrere Sekunden stand er nur da, sah sie ausdruckslos an, bis er sich dann Georgie zuwandte.

      Nur zu gut wusste Betty, um was es in der Unterhaltung ging. Schließlich war Kessie im Arbeitszimmer überaus gesprächig unter ihr, bevor sie ihn erbarmungslos zu reiten begann.

      Lasset euch niemand verführen in keinerlei Weise;

      denn er kommt nicht, es sei denn, dass zuvor der

      Abfall komme und offenbart werde der Mensch

      der Sünde, das Kind des Verderbens.

      Denn es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit,

      nur dass, der es jetzt aufhält, muss

      hinweggetan werden.

      Das Neue Testament

      Der


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