Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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Schlafsaal befand sich ungefähr auf gleicher Höhe mit der Küche, aber niemand bis auf Tante Irmtraut konnte etwas über diesen Raum sagen.

      Wurde der Schlafsaal überhaupt noch genutzt? Ständig war die Tür verschlossen. Niemand ging dort hinein oder kam dort heraus.

      Niemals stand die Tür offen.

      Unvermittelt fuhr Kessie herum. Sein Blick schoss zum Haupteingang.

      Die Jungs waren noch nicht da.

      Irgendwie wirkten die Einfahrt und der Platz davor wie hingemalt. Zwei trichterförmige Lampen hingen an einem Kabel über dem schweren Gittertor und warfen ein unechtes Licht auf das Gelände. Das schwere Tor war geschlossen. Deutlich konnte man die gusseisernen Buchstaben erkennen: HAK-WERK. Von weitem schien es, als würden sie leuchten.

      Ungeduldig sah er auf seine Armbanduhr … 27 Minuten vor 10 … na ja, bald … Plötzlich knackte es hinter ihm, gefolgt von einem aufdringlichen Rascheln. Es kam aus dem finsteren Dickicht.

      Kessie flog herum. Instinktiv wich er einen Schritt zurück, als wäre der Zaun elektrisch geladen. Unter einer Tanne registrierte er eine Bewegung. Sofort ging er in Deckung, hörte sich aber schreien: „Scheiße, verdammt! Wer ist da?“

      Wieder kniff er die Augen zusammen, um sich zu den Umrissen der Gestalt hindurchzuzwängen: „Verdammt nochmal, Matjes … Hab’ ich mich verjagt! Was machst du denn da drinnen, Mann? Was soll das?“

      „Psst!“, kam flüsternd die Antwort, „Nicht so laut … und duck’ dich. Bleib’ da in Deckung.“

      Matjes selbst kroch wieder unter die Tanne.

      Sofort bückte sich Kessie, so tief er konnte. Für Sekunden kniete er gesenkten Hauptes vor dem Jägerzaun, als wollte er beten. Mit Scharfsinn konnte er die Situation nicht einschätzen. „Matjes“, krächzte er gepresst, aber aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Er hob den Kopf und versuchte vergeblich, Matjes unter der Tanne auszumachen.

      Er sah ihn nicht. Plötzlich musste er lachen … Das ist doch irre … Ich knie’ hier an diesem Zaun und hab’ keinen Schimmer, warum!

      Sekunden vergingen.

      Nichts passierte. Es wurde nur zunehmend dunkler.

      Dann tauchte Matjes wieder auf. Er sah zu dem Barackenbau hinüber. Mit einer gewissen Erleichterung beobachtete ihn Kessie, in der Hoffnung, doch noch irgendwas zu begreifen.

      „Matjes, was ist denn los, verdammt noch mal?“

      „Still, Mann … Versuch’ lieber, vorne zum Eingang zu kommen … Aber bleib geduckt“, Matjes sprach leise, aber deutlich, „und komm’ zu mir rüber … Warte“, er wandte sich wieder dem Gebäude zu. „Jetzt geht’s. Mach’ zu“, und mit der Hand deutete er hinter sich zu der schmalen Pforte, die sich etwa dreißig Meter längsseits des Zauns befand.

      Unschlüssig setzte sich Kessie in Bewegung. Noch immer hatte er keine Erklärung für Matjes’ eigenartiges Verhalten. Dennoch schlich er in gebückter Haltung am Zaun entlang, schlüpfte durch die offenstehende Pforte, vorbei an dem Fahrradstand, um sich dann ins dichte Gehölz zu schlagen. Nach ungefähr zwei Metern ging er abermals in die Knie.

      Er durfte nicht auch noch die Orientierung verlieren. Mehr zufällig streifte sein Blick den Barackenbau und verfing sich an einem der gähnenden Fenster. Im selben Moment sah er es. Da bewegt sich etwas, durchfuhr es ihn wie ein greller Blitz.

      Doch das konnte nicht sein … nicht um diese Zeit.

      Quatsch! Das ist doch Einbildung … völliger Blödsinn, versuchte er, sich zu beruhigen, doch das gelang ihm nicht. Ungläubig schüttelte er den Kopf und ein automatischer Reflex ließ ihn erneut grinsen.

      Ich kriech’ hier im Gelände ’rum, muss dabei in Deckung bleiben … und weiß beim besten Willen nich’, was das alles soll!

      Trotzdem behielt er das Fenster im Auge.

      In skurrilen Bildern tanzte schwarzes Geäst im Spiegelbild der Glasscheibe.

      Na klar … nur’ ne optische Täuschung, kroch er entschlossen weiter.

      Matjes würde eine Menge zu erklären haben, hatte er ihn erst einmal in dieser Scheißdunkelheit aufgespürt. Er entdeckte ihn hinter einer Tanne. Leicht nach vorn gebeugt hockte er da, hielt sich den Kopf, spähte aber in seine Richtung.

      „Okay“, murmelte Kessie, „ich höre mir an, was du Spinner zu alldem sagst, aber dann ramme ich dich ungespitzt in diesen feuchten Scheißboden.“

      Matjes winkte ihn heran. Noch gut sieben Schritte trennten die beiden, als der Spuk plötzlich losbrach. Gleißend rotes Licht flutete aus dem Fenster, das er im Auge behalten hatte. Unvermittelt erschrak er. Er konnte deutlich eine Gestalt in dem leuchtenden Fenster erkennen und mit einiger Mühe kombinierte er, das ist … Warte mal, das ist …, zögerlich begann er zu zählen. Ja, genau … Eins, zwei, die Tür … Dann kommt die Küche … Drei, vier, fünf …, „das ist die Waisenkammer!“ Und als er das ausgesprochen hatte, war die Erstarrung verflogen, sofort duckte er sich, sah zu Matjes hinüber, der wie hypnotisiert in das grelle Licht starrte.

      Das geisterhafte Schauspiel dauerte keine Minute und während Kessie noch zu Matjes hinüber sah, erlosch das Licht.

      Mit einer hektischen Handbewegung deutete ihm Matjes, dessen Blick weiterhin starr auf das Fenster gerichtet war, in Deckung zu bleiben.

      Kessie blieb, wo er war. Aber an seinen Nerven zerrte maßlose Ungeduld. Nach wenigen Sekunden der Dunkelheit flackerte das Licht erneut auf. Es überflutete das Gelände jetzt noch intensiver als zuvor, färbte die Tannen und Sträucher purpurfarben, leuchtete sogar weit über den Zaun hinweg.

      Irritiert sah sich Kessie um, als wollte er sich einen Gesamteindruck verschaffen, während im Fenster wieder die Gestalt erschien. Sie steht nur da … bewegt sich nicht. Regungslos steht sie da, verdammt! Sie starrt in eine Richtung … nach rechts. Es ist ein Mädchen.

      Ganz deutlich konnte er die langen, glatten Haare erkennen.

      Sie ist jung …, sah ein bisschen aus wie auf einem alten Foto seiner Mutter in Jung. Auch dieses Schauspiel war nur von kurzer Dauer.

      Tiefe Finsternis blieb zurück, doch diesen Augenblick nutzte Kessie und stolperte in Matjes’ Richtung.

      „Hast du das gesehen, Mann!“, rief Kessie ihm zu.

      „Was, denkst du, mach’ ich hier seit Stunden?“, entgegnete Matjes stöhnend und hielt sich den Kopf, als hätte er etwas am Hinterkopf abbekommen.

      „Du meinst doch wohl nicht …“, Kessie stutzte. „Seit gestern Abend etwa?“

      „Nee, vorher war ich drüben. Weiß’ aber nich’, wie lange“, schwerfällig hob er den Kopf, „Plötzlich war ich dann hier.“

      „Wie jetzt?“, hektisch sah sich Kessie um, als ob ihnen noch jemand zuhören würde, dann flüsterte er: „Ich versteh’ das nicht, Mann …“ Dabei fielen ihm jetzt Matjes’ blaues Veilchen und die Schürfwunden an der linken Wange und am Kinn auf. „Hee, was ist mit dir?“, Kessie wollte ihn gerade an den Armen packen und kräftig wachrütteln, „Hast du dich geprügelt? Das sieht schlimm aus, Mann!“

      „Ja, verdammt“, antwortete Matjes schroff, wobei er wieder stöhnte.

      Kessie überlegte angestrengt, während er sich scharf mit der Hand durch die Haare fuhr.

      Doch dann schnellte er herum und schaute hinüber zum Haupteingang, wo er Georgie und die anderen längst erwartete. „Wer hat dich denn nur so zugerichtet?“, die Antwort gar nicht erst abwartend, schüttelte er den Kopf und sagte: „Warte, warte, warte! Ulli meinte gestern, dass du plötzlich Ochsenzoll ausgestiegen bist.“ Dabei fixierte er Matjes: „Du willst mir doch jetzt nicht weismachen, dass du die ganze Zeit …?“ Er brach den Satz ab, sortierte neu und nickte nur fragend.

      „Ja, doch“, entgegnete Matjes mit leiser, aber nicht standfester Stimme, die


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