Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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in einer riesigen Dunkelkammer abgedreht werden können.

      „Hee, Tommi!“, tippte er ihm in die Seite, „Ist das nich’ abgefahren?“

      Ohne den Kopf zu heben, fragte Tommi mit nicht standhafter Stimme: „Was ist … was geht da ab, Mann?“ Beißender Schweiß dampfte unter seinen Achseln und ließ ihn trocken schlucken. Sofort drängte sich ein ähnlich grelles Licht in seinen Sinn, dass er jahrelang vergessen hatte: das Orangelicht.

      Wie abgesprochen hatten sie Taschenlampen zur Hand. Auch trugen sie Rucksäcke bei sich. In Holmis Jeans, hinten im Hosenbund, steckte eine Schraubenzieher ähnliche Eisenstange, die an dem einen Ende zu einem breiten Griff gebogen und verschweißt war. Das andere Ende hatte die Spitze eines großen Schraubenziehers, jedoch war das Ende wie ein Messer scharf geschliffen. Eine tödliche Waffe, die er aber noch niemals ernsthaft gebrauchen musste, er jedoch keineswegs mehr zögern würde, müsste er sie irgendwann zur Verteidigung benutzen. Doch nicht nur mit dieser Schraubenzieher-Waffe war er ausgerüstet: In der Jackentasche steckten die messerscharfen Messingscheiben.

      Seit gestern auf der Party und Tage zuvor, als Georgie ihn telefonisch zu der Party einlud, hatte er nicht mehr an die schlimmen Stunden im Werk gedacht. Doch jetzt schlichen die Erinnerungen heran, fügten Bruchstücke in das Puzzle und verwandelten es allmählich zu einem grauenvollen Bildnis. Hatten sie das alles denn wirklich vier Jahre lang vergessen? Ganz und gar alles? Das konnte nicht sein! Irgendetwas Schlimmes musste der Grund für das alles sein.

      Okay, gelegentlich besuchte er seinen besten Freund in Eppendorf, doch nie sprachen sie von Kahli, nie wurde das Werk erwähnt. Von Georgie wusste er nur, dass er und Ulli irgendeinen Kampfsport machten, aber sonst …? Kessie, Matjes und selbst Ulli hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Nur Tommi traf er noch ein paar Mal, bevor der sich so unsterblich verliebte und sich dann auch bald darauf vollends zurückzog … und nun waren sie wieder beisammen.

      Die Clique der FÜNF … Nur Matjes fehlte noch, aber der würde bestimmt noch kommen … Ganz sicher hatte ihm Ulli Bescheid gesagt.

      Jetzt aber saß er neben Tommi in dem Opel Kadett und kämpfte um einen klaren Verstand.

      Plötzlich hatte er das Gefühl, alles heute Nacht aufs Spiel zu setzen. Bis vor zwei Stunden noch war er sich sicher, das Richtige zu tun, … den Tod von Kahli zu rächen! … Alle zusammen und vereint … die Clique der FÜNF gegen das Dreckschwein Ebling!

      Doch jetzt auf einmal waren die Zeichen viel zu deutlich, viel zu plastisch. Hier in Tommis Wagen drohte ihn der Mut zu verlassen, obgleich er nach wie vor fest entschlossen war, die Sache zusammen mit seinen Freunden zu Ende zu bringen. Nur fehlte ihm jetzt der nötige Schub, einfach auszusteigen und hinüber zu Georgie und Ulli zu rennen. Er starrte in diese rote Lichterflut und sah, wie sie sich gleißend in alle Richtungen ausbreitete.

      Noch immer saß Tommi eingesunken hinter dem Lenkrad und blickte zu Boden, als hätte er den Zündschlüssel fallengelassen.

      „Ja, Mann … Was zum Teufel ist das?“, wiederholte Holmi Tommis Frage und er wiederholte diese Worte in Gedanken noch mal und noch mal. Es hat bereits begonnen!

      Gerade, als Holmi sich im Beifahrersitz zurücklehnen wollte, um tief einzuatmen, stieß ihn Tommi in die Seite. „Los! Wir müssen hier ’raus und zu den anderen“, seine Stimme klang belegt und brach fast, dabei sah er Holmi an, als wollte ihm jemand mit aller Kraft die Krone des Irrsinns aufsetzen.

      „Eine Warnung!“ Tommi richtete sich auf. „Das Licht ist bestimmt eine Warnung!“

      Entsetzt schoss Holmis Blick zu Tommi, der jetzt ebenfalls aufrecht saß, sich aber gehetzt umsah. Die Panik hatte Holmi erfolgreich runtergekämpft, nur die Angst wich zögerlich.

      Tommi atmete tief durch. Die Überzeugung ihres Vorhabens hatte sich soeben wieder in den Vordergrund gekämpft.

      Mit einem entschlossenen Griff an die Schirmmütze entriss er sich endgültig der bleiernen Lähmung, mit Daumen und Zeigefinger rechts herum, sodass der Schirm in seinen Nacken reichte. Wie in Zeitlupe zog er den Schlüssel vom Zündschloss, verstaute ihn in der Brusttasche seiner Collegejacke und drückte sich tief in den Sitz.

      Er sah nach rechts zu Georgie und Ulli und dann wieder zu Holmi.

      Das gleißend rote Licht zerrte an seinen Nerven.

      Irgendwie war die Situation grotesk. So muss es einem Einbrecher vorkommen, der nachts in eine abgelegene Villa einsteigt, am großen Esstisch vorbeischleicht, immer dem gebündelten Strahl der Taschenlampe folgend, und urplötzlich geht die grelle Deckenbeleuchtung an.

      Sein adrenalingeschwängerter Instinkt lässt ihn abrupt wegtauchen. Tausend Gedanken schießen durch sein Hirn. Kalter Schweiß tritt aus und sein Puls hämmert links und rechts an den Schläfen.

      Der Panik nah, dreht er sich in alle Richtungen … aber nichts passiert. Niemand kommt herein … Niemand ruft: Halt stehen bleiben! Polizei! Hände hoch!

      In der ersten Schrecksekunde ist der Einbrecher wie gelähmt.

      Doch wie muss er sich erst fühlen, wenn im nächsten Augenblick das Licht wieder ausgeht, ohne dass etwas passiert … Man könnte glatt den Verstand verlieren, Mann!

      Fast gleichzeitig öffneten sie die Wagentüren.

      Die Fahrertür knarrte blechern und die Beifahrertür fiel schwer ins Schloss. Mit Wucht musste Holmi sie zustoßen, was natürlich Lärm verursachte. In der Stille hörte es sich mutwillig und provozierend an.

      Gleichzeitig verließen sie den Kadett.

      Als ob er in einen Kugelhagel geraten wäre, duckte sich Holmi, als er den Boden berührte.

      Auf allen Vieren kroch er um das Heck des Kadetts herum, entdeckte Tommi, der ebenfalls in die Knie gegangen war. Erneut drängten sich Zweifel zwischen seine Schläfen. War die Entscheidung, an diesen Ort zurückzukehren, wirklich gut? Sollten sie nicht lieber alles auf sich beruhen lassen? Warum denn Tote wecken?

      Verwirrt sah er zu Georgie hinüber, doch sein Flüstern galt Tommi: „Hee, Mann … Das ist doch irre!“

      In diesem Moment stürmte Tommi in gebückter Haltung hinüber zu Georgie und Ulli.

      Ansatzlos hastete Holmi hinterher.

      „Ihr hättet noch in Deckung bleiben sollen“, zischte Georgie nervös. Natürlich war er nervös, da er noch keinen plausiblen Grund für dieses eigenartige Licht hatte. Doch eine unbestimmte Vorahnung massierte bereits mehrere Minuten sein Hirn: So durfte es nicht beginnen! Nein, nicht hier … nicht in dem Kinderhort! Nein, nicht so!

      Sie hockten nebeneinander am Zaun und Georgie riskierte wieder einen Blick um die Ecke. Neue Lichtsignale kamen nicht. Nur einer von ihnen konnte dort hinten in den Büschen hocken, folgerte er … Kessie, Matjes oder … Betty. Betty? Wie kam er jetzt auf Betty? Nein, warum sollte sie … Höchstens wenn Kessie sie mitgenommen hätte, aber das war unwahrscheinlich.

      Von ihrer Position aus war die Sicht auf den flachen Barackenbau eher schlecht, da ihnen dichte Tannen und Büsche die Sicht versperrten, außerdem verfälschte das rote Licht alles ringsherum und gerade, als Georgie die Lichtquelle orten wollte, versiegte sie zeitlupengleich. Er zögerte keine Sekunde, gab den anderen ein Zeichen und war schon um die Ecke des Zauns verschwunden.

      Ohne sich länger dem Phänomen zu widmen, folgten ihm die anderen.

      Dicht hintereinander drückten sie sich am Zaun entlang, kamen an der Stelle vorbei, von wo das gemeinsame Warnsignal geblinkt wurde, nur war dort jetzt niemand mehr.

      Sekunden später schlüpfte einer nach dem anderen durch die offenstehende Pforte und kurz darauf versammelten sie sich unter dem alten Fahrradstand. Tommi und Holmi atmeten heftig und tief.

      Sie standen dicht beisammen und warfen sich fragende Blicke zu. Soeben hatten sie die Schwelle in ein Zeitfenster überschritten.

      Das wussten sie alle.

      „Bleibt hier“, entschied Georgie, „und egal, was hier wieder abgeht,


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