Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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… Vielleicht Kessie oder Matjes, auf jeden Fall einer von uns.“ Dann sah er zu Ulli: „Hast du Matjes heute schon gesehen?“

      „Nein“, erkannte dieser plötzlich, da ihm soeben erst bewusst wurde, dass er seinen Bruder noch gar nicht gesprochen hatte, seitdem Matjes den Abend vorher am Ochsenzoll-Bahnhof ausgestiegen war.

      Georgie nickte zweimal und sah wieder hinüber zum Dickicht, machte ein paar Schritte rückwärts, bis er sich im Lauf umdrehte und im Dunkel verschwand.

      Er rannte zu dem Barackenbau.

      Dort duckte er sich, lehnte sekundenlang an der Holzwand, bis er dicht an der Wand entlang weiter rannte.

      In diesem Moment flutete es gleißend rot aus dem Fenster, unter dem er vorbeikam. Es bahnte sich den Weg ins Dickicht. Für den Bruchteil einer Sekunde erschrak er, stoppte, sah ebenfalls ins Dickicht.

      Ihm war, als blickte er geradewegs auf eine Bühne, auf der eine urwaldgleiche Dekoration hochgezogen war, doch außer dem Geäst sah er nichts, was ihn interessierte.

      Plötzlich jagte ein gewaltiger Schauer über seinen Rücken, der ihn unvermittelt umdrehen ließ. Er blickte direkt in das hell erleuchtete Fenster und sah das kleine Mädchen. Regungslos stand es da, starrte nach rechts an die Wand.

      Sofort erkannte er die Kleine. Der eiskalte Schauer tanzte auf seiner Schädeldecke, doch schon der nächste Augenblick wurde von seiner Willenskraft besiegt. In diesen Bann würde er sich nicht hineinziehen lassen.

      Er sprang auf das Fenster zu und mit der flachen Hand schlug er gegen die Scheibe, dass es dumpf schallte … Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Das Mädchen zeigte keine Reaktion. Georgie brüllte den Namen heraus, ohne nachzudenken: „Ann-Marie!“

      Auch jetzt reagierte die Kleine nicht.

      Noch einmal schlug Georgie gegen die Fensterscheibe, dass es laut schepperte, ließ dann aber sofort ab.

      Blitzschnell drehte er sich um und stürmte ins Dickicht. Es waren nur etwa fünf Meter, bis er hinter einer riesigen Tanne Kessie und Matjes entdeckte, die wie unter Hypnose dem Schauspiel zusahen, jedoch riss er sie aus ihrer Erstarrung. Lautstark erschraken sie, als wären sie aus einem scheußlichen Alptraum erwacht. Gleichzeitig stießen sie ein: „Hah!“ aus.

      Georgie verlor keine Zeit. Er schrie sie an: „Los jetzt! Kommt da raus und kommt mit! Na los!“

      Entgeistert starrten sie in Georgies Gesicht, gehorchten aber sofort.

      Er zeigte zum Fenster und schrie: „Das da kann Euch nichts! Kess’, das solltest du doch am besten wissen, Mann! Na los, kommt da raus, die anderen warten!“

      Daraufhin rannten sie gemeinsam durchs Dickicht zurück zum alten Fahrradstand, das gleißend rote Licht im Nacken.

      Als hätten sie die Zeit zurück gedreht, standen sie wie damals im Halbkreis um Georgie herum. Nur Georgie war in der Lage, sie zu führen.

      „Nun sagt schon, was geht da ab?“, wollte Ulli wissen und erst jetzt fiel ihm das blaue Auge seines Bruders auf. Staunend weitete sich sein Blick, doch die dazugehörige Frage stellte Georgie: „Hee, Mann! Was ist dir denn passiert? Wer hat dir das denn verpasst?“, wobei er einen Schritt auf ihn zumachte.

      „Ja Scheiße, wer war das?“, brodelte Holmi bereits. Derartige Ungerechtigkeiten konnte er zu keiner Zeit billigen. Sofort wollte er absolute Vergeltung.

      Matjes begann, von dem Erlebnis im Werk zu berichten und davon, dass er von dem hübschen Mädchen einen Schlag in den Nacken bekommen hatte und erst hier im Kinderhortgelände wieder aufwachte. Den Rest erzählte Kessie.

      Es gibt also keinen Zweifel mehr, dass eine direkte Verbindung zwischen dem Werk, dem Kinderhort, Ebling und wahrscheinlich auch Tante Irmtraut besteht.

      Georgie war beunruhigt über den Tunnel, der zu dem Kinderheim führte. Außerdem hatte er das unbestimmte Gefühl, dass es sich bei dem hübschen Mädchen nur um Betty handeln konnte.

      Also war sie ebenfalls hier.

      Das Schuldbekenntnis

      Sommer 1967

      Kapitel 14

      Für Georgie und Kessie verlief die Zeit im Kinderhort unbeschwert. Der Hort war ihr zweites Zuhause. Mit elf ging Georgie noch immer dorthin, da seine Eltern voll berufstätig waren. Er sollte nicht zu einem Schlüsselkind heranwachsen.

      Kessies Mutter teilte diese Ansicht, deshalb waren die beiden Jungs nach der Schule im Hort. Dort machten sie ihre Schularbeiten. Anschließend spielten sie mit den anderen Kindern.

      Mittlerweile aber hatten sich ihre Interessen verlagert. Kessies Aufmerksamkeit galt nur noch Betty. Seitdem sie in sein Leben getreten war, schien er wie verzaubert. So oft es ging, hockten sie beisammen.

      Georgie hingegen schenkte einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit einer Person, zu der er sich auf merkwürdige Weise hingezogen fühlte. Es war Tante Irmtraut.

      Fast täglich kletterten Betty und Kessie über den mannshohen Jägerzaun und zwar im hinteren Teil des Geländes, wo die Bäume dichter zusammenstanden. Dann trieben sie sich stundenlang draußen herum. Georgie war nicht immer dabei. Nicht etwa aus Furcht, erwischt zu werden, vielmehr hielt ihn eine unklare Neugier ab. Er wollte bei Tante Irmtraut sein, obwohl er sich nicht wirklich erklären konnte, warum das so war. Er ertappte sich dabei, wie er sie immer wieder ansah, wie er ihre Bewegungen beobachtete, mit Interesse ihre mächtigen Rundungen betrachtete. Ungeniert strömten aus seiner untersten Seelenpforte unklare Wünsche heraus, die ihn immer wieder erschrecken ließen, da er derartige Gedanken bislang nicht kannte. Er musste sie immer wieder betrachten, war fasziniert und abgestoßen zugleich, schwamm unbeholfen im Wechselbad intensivster Gefühle. Das machte ihn unsicher, obwohl er sich absolut nicht verunsichert fühlte.

      Im Gegenzug richtete Tante Irmtraut ihre Waffen bewusst auf Georgie. Natürlich waren ihr seine Blicke nicht entgangen. Schon eine Weile teilte sie das abwegige Interesse und zwar seit dem Tag, als Betty ihr von Georgies und Kessies gruseliger Begegnung mit dem uniformierten Mann und den Hunden erzählt hatte, denn … Kessie hatte den geleisteten Schwur gebrochen. Er vertraute Betty das Geheimnis an.

      Vor ihr konnte er einfach nichts verheimlichen. Damals konnte er doch nicht ahnen, dass er durch den Verrat das Schicksal herausgefordert hatte.

      An jenem Tag, als die Drei wieder einmal den Hort verlassen hatten, war der Zeitpunkt zum Handeln gekommen. Tante Irmtraut musste lediglich auf die Rückkehr der drei Ausreißer warten.

      Also lauerte sie ihnen auf.

      Vor den Augen der anderen Kinder pflückte sie Georgie von der Birke, als dieser gerade zurück über den Zaun geklettert war. Sie tat so, als hätte sie Betty und Kessie nicht gesehen, die sich hinter einem Gebüsch jenseits des Zauns versteckt hielten.

      Als die Luft rein schien, kletterten auch sie zurück.

      Zuvor beobachteten sie noch, wie Georgie und Tante Irmtraut, die ihn am Ohr hinter sich herzerrte, durch die schmale Seitentür im Bauch des Barackenbaus verschwanden.

      Sie bemerkten aber auch, dass sich Georgie nicht wirklich dagegen wehrte.

      Anstandslos ließ er sich mitziehen.

      Verwirrt mischten sich Betty und Kessie unter die spielenden Kinder.

      Für Georgie kommt jetzt jede Hilfe zu spät, da ist nix mehr zu machen, mussten sie erkennen und dennoch folgten sie ihnen ins Gebäude.

      „Hüten wirst du dich, das nochmal zu tun!“, herrschte Tante Irmtraut ihn an, als sie vor der Tür zum Dienstzimmer standen. Sein Ohr hatte sie losgelassen. Es schmerzte ungemein und Georgie war sich sicher, dass es längst geschwollen und ganz sicher blutrot angelaufen war.

      Während sie mit der einen Hand in der Seitentasche des Kittels nach dem Schlüsselbund kramte, hielt sie ihn im festen Griff, presste ihn an sich, wobei ihm sofort der intensive Gummigeruch in die Nase kroch.

      „Was


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