Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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Wasser füllte, noch bevor er irgendwie reagieren konnte.

      Georgie war wieder allein auf dem Flur. Aufdringlich drückte sich das Tellergeklapper durch die Küchentür gegenüber und der Flur sah wieder aus, wie er ihn kannte.

      Plötzlich hörte er am anderen Ende ein klirrendes Geräusch. Wie Schlüssel an einem Schlüsselbund. Sein Kopf flog herum. Er sah, dass Tante Irmtraut auf den Flur trat.

      Gerade verriegelte sie die Tür zu ihrem Dienstzimmer.

      Schlagartig riss es ihn in die Gegenwart zurück. Ihm blieb keine Zeit, die verwirrten Gedanken zu verknoten. Schnell musste er handeln. Jetzt hatte er ganz bestimmt nichts auf dem Flur zu suchen.

      Geistesgegenwärtig sprang er hinter die Reihe von Spinden und lugte in ihre Richtung.

      Nur kurzzeitig würden ihm die Blechschränke Unsichtbarkeit bieten, nur solange sie nicht näher herangekommen war.

      Doch es sah so aus, als ob sie genau seine Richtung ansteuerte.

      Trotz seiner acht Jahre war im bewusst, dass Tante Irmtraut aus ihrer Entfernung und bei dem trüben Licht nicht erkennen konnte, was sich im hinteren Teil des Flures abspielte.

      Er hatte also Zeit, sich ganz und gar in Luft aufzulösen.

      Die Spinde waren schmal, dafür aber mannshoch. Die nichtbenutzten Spinde waren verschlossen, während die übrigen meist offen standen. Eilig probierte er den Spind, hinter dem er sich verschanzt hatte. Er ließ sich öffnen. Das schleifende Quietschen ging im breiten Küchengeklirr unter. Nur ein Kind konnte sich in einen Spind zwängen … Lautlos kroch er hinein und zog vorsichtig die Tür heran, sodass sie fast, aber nicht ganz ins Schloss fiel.

      Deutlich waren die festen Schritte von Tante Irmtraut auf den Dielen zu spüren.

      Das Beben wurde stärker, je näher sie kam, doch das jagte ihm keine Angst ein.

      Er konnte nicht sagen, dass er sie nicht mochte. Seine Eindrücke von ihr waren normaler Herkunft. Die Gefühle ihr gegenüber ebenfalls … wie die Gefühle eines Achtjährigen gelagert sind … seiner Kindergärtnerin gegenüber.

      Wieso sollte sie böse sein?

      Nebenbei registrierte er, dass er zeitweise gar nicht atmete, da er sich angestrengt auf die Geräusche außerhalb des Spinds konzentrierte. Ihre Schritte waren jetzt schon bedrohlich nahe. Übergangslos verdoppelte sich sein Herzschlag. Er atmete flach und dennoch fühlte er sich sicher. Er wusste, dass sie ihn nicht entdecken würde – es war so ein Gefühl. Und richtig, die bebenden Schritte zogen am Spind vorüber und auf dem Flur wurde es wieder still.

      Er wartete einige Minuten, bis er die Blechtür öffnete.

      Bestimmt war sie in einem der hinteren Räume verschwunden.

      Bei den Babys … die Tür gegenüber! Jedenfalls klang es so, weil er ganz nah eine Tür ins Schloss fallen hörte.

      Während er die Spindtür mehr und mehr öffnete, waren seine Sinne bis zum Zerreißen gespannt. Nur das verräterische Knarren übertönte das Küchengeklapper.

      Die Luft schien rein.

      Zuerst steckte er den Kopf heraus, dann kletterte er aus seinem Versteck. Wo war das blonde Mädchen abgeblieben? … Und die Art und Weise, wie sie verschwand. Und dieses Licht überall? Ganz hinten im Flur verschwand sie … da wo … genau, dort, wo die Abstellkammer ist!

      Jeder machte einen großen Bogen um diese Tür. Auch Georgie war sich nicht sicher, ob er jemals den Mut aufbringen würde, die Tür zu öffnen, und noch während er sich alle nur erdenklichen Gefahrenmomente ausmalte, siegte die Neugier.

      Im nächsten Augenblick stand er vor der Tür. Er spürte, dass seine Hände feucht wurden.

      Konnte er den Türgriff einfach so hinunterdrücken?

      Konnte er sich dazu durchringen, den Griff anzufassen?

      Wenn ihm das gelänge, würde ihn ganz sicher eine schreckliche Fratze schnappen und hineinzerren.

      Den Blick starr auf den Türgriff geheftet, hob sich wie mechanisch seine Hand. In kleinen Perlen trat Schweiß auf seine Stirn. Kleine Rinnsale begannen sich zu formen, sodass seine Augen schnell zu brennen anfingen. Gleich wird die Tür brutal aufgerissen und messerscharfe, dolchähnliche Klauen werden hervorschnellen, mich packen und mich mit nur einem einzigen Schlag töten!

      Wie von selbst umfasste seine kleine Hand den blanken Türgriff. Nichts passierte. Die grauenhafte Bestie muss da irgendwo stecken … Ganz sicher!

      Geballte Neugier trieb ihn an.

      Oder Tante Irmtraut wird gleich erscheinen, mich ergreifen und mit sich zerren! Als ob der Griff plötzlich unter Strom stand, ließ er ihn blitzschnell los. Er war zwar mutig, aber deshalb noch nicht tollkühn. Doch einfach so wegrennen? Das konnte er auch nicht. Trotz aufkommender Panik. Er versuchte, sich zu konzentrieren … Er musste unbedingt nachdenken. Er brauchte eine Idee.

      Wieder huschte ihm das blonde Mädchen durch den Sinn.

      Wie konnte sie so schnell verschwinden … und … wohin? Ob sie vielleicht hinter dieser Tür war? Möglich war auch das.

      Endgültig befiel ihn Panik.

      Seine flaumigen Nackenhaare richteten sich auf.

      Jetzt war sein Denk- und Handlungsvermögen blockiert, obendrein wollte ihn auch noch feige der Mut verlassen. Seine Neugier hatte ihn bis zu dieser Tür gebracht – bis hierhin, aber nicht weiter.

      Wie von allen räudigen Hunden gehetzt, stürmte er davon, zurück in den großen Schlafsaal. Mit einem kühnen Hechtsprung landete er in seinem Bett, wo das ungeheure Abenteuer endete. Mit einem Ruck war die Bettdecke über den Kopf gezogen.

      Ganz schnell wollte er das alles vergessen.

      „Was hast du eben gesagt? Ein Mädchen? Was für ein Mädchen?“, wiederholte Kessie die Frage leise durch den Mundwinkel. Ruckartig fuhr Matjes herum und antwortete mit schmerzverzerrtem Gesicht, er wisse es nicht. Er wisse nur noch, dass sie ihn in eine Art Käfig gesperrt hatte, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

      Hier wäre er wieder aufgewacht.

      „Aber das ist doch total irre, Mann!“

      „Sag’ ich doch“, sein Blick hing wieder an dem Fenster, „zuerst war ich drüben im Werk.

      Und da war auch dieses rote Licht … und die … die Querflöte.“

      Mit weit aufgerissenen Augen sah sich Kessie wieder um. Eigentlich konnte es nicht sein, dass niemand sonst dieses gleißend rote Licht und das Mädchen am Fenster sah. Tatsächlich ging gerade ein älterer Mann mit einer Frau direkt an dem Zaun entlang.

      „Eine Querflöte?“, fragte er hektisch, konnte der Äußerung jedoch kein größeres Interesse schenken, denn das, was er sah, war ebenso interessant. Das ältere Ehepaar wurde sogar von dem Licht angestrahlt, doch es zeigte keine Reaktion. Sie blieben nicht etwa stehen, weil sie geblendet wurden, sie schauten nicht einmal hinüber. Sie gingen einfach weiter, gingen vorbei an dem Jägerzaun und verschwanden schließlich aus seinem Blickfeld. Irgendwie passt das alles zusammen, murmelte Kessie. Abrupt wendete er sich zum Fenster hin, das sich jetzt wieder in tiefe Dunkelheit hüllte.

      „Was sagst du?“, fragte Matjes entrückt, wobei er sich wieder in den Nacken fasste, als würde er eine mittlerweile verkrustete Wunde befühlen, die noch immer stechende Schmerzensschübe aussendete und zwar immer, wenn er den Kopf drehte. In der Tat, sein Nacken schmerzte bestialisch, ebenso das blaue Auge, obwohl die Schwellung bereits nachließ.

      „Das passt alles zusammen … der Kinderhort, das Werk, die Unfälle und die Kleine da im Fenster“, Kessie sagte das ganz ruhig und tonlos, als ob ihn diese Erkenntnis überhaupt nicht berührte, „aber … aber das Kinderheim?“

      „Alles passt zusammen! Nur kann keiner sonst was sehen! Nur wir … nur wir können das alles sehen“, stockte Matjes und hustete ein-, zweimal, „Das ist doch


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