Kettenwerk. Georgian J. Peters

Kettenwerk - Georgian J. Peters


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      Seit jener Zeit hasste sie alle Männer, die sich ihr nähern wollten.

      Sie wurde Hebamme und stillte fremde Säuglinge.

      Seit Kessies Anruf stürzten gewaltige Erinnerungsbrocken über Georgie ein. Er erinnerte sich schemenhaft an die jahrelangen Besuche bei Tante Irmtraut.

      Er wollte endgültig vollständige Klarheit über diese Zeit haben.

      Er erinnerte sich nur vage, einem Mädchen geholfen zu haben. Er tröstete sie und sie schafften den uniformierten Mann dann gemeinsam weg. Er war ihr nahe gekommen.

      Und dann als sie … das … das Käfterchen … der dunkle Holzverschlag unter der Treppe!

      Wir haben … Verdammt noch mal … Was genau ist damals passiert?

      Und wie hieß das Mädchen? … Irgendein kurzer Name … mit einem … I… Irmi! Bei dem Namen erschauderte er. Nein! Das kann nicht sein!

      Ohne nach rechts oder links zu schauen, beschleunigte er seine Schritte. Er überquerte die Tangstedter-Landstraße und bog in die Fritz-Schumacher-Allee ein. In dem unglaublichen Puzzle fehlten nur noch wenige Mosaiksteinchen. Entschlossen schob er die Sonnenbrille hoch, die auf seinem schweißnassen Nasenrücken herabgerutscht war. Er spürte, wie der Rücken seines Hemds nass wurde und ihn die Ungewissheit mit einen hässlichen Schweißfleck besudelte.

      Damals beherrschten ihn Gefühle ganz anderer Art. Er verliebte sich.

      Diese unklaren Gefühle holten ihn nun wieder ein. Wohlige Schauer liefen an ihm herab, je näher er dem kleinen Reihenhäuschen kam. Er kannte noch nicht alle Gründe für diese unklaren Gefühlsschübe. Wieso ging er tatsächlich so oft zu ihr?

      Sein gestresstes Hirn arbeitete wie ein Uhrwerk. Er versuchte, alle nur erdenklichen Möglichkeiten zusammenzuraffen und Verbindungen zu knüpfen, doch er war nicht imstande, zum eigentlichen Kern vorzudringen.

      Für wenige Sekunden verweilte er an der zierlichen, geschwungenen Gartentür, versank abermals in dichtem Gedankengeflecht.

      Ausdruckslos strich sein Blick durch den überwucherten Vorgarten. In den Jahren waren die vielen Bäume und Büsche ins Uferlose hochgeschossen und verdeckten die freie Sicht zum Haus. Georgie hatte keine Zweifel, dass Tante Irmtraut ihn bereits erwartete. Automatisch sah er auf seine Uhr … noch drei Minuten, dann war es Punkt Vier.

      Er schwitzte zwischen den Schulterblättern, doch entschlossen drückte er die kleine, grüne Pforte auf. Er folgte dem schmalen Steinplattenweg, der ihn zur Terrasse brachte.

      Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass sich die Gardine am Fenster links neben der Tür bewegte.

      Nun stand er wieder vor der Tür und er sah an sich herab, als zeitgleich große Erinnerungsbrocken auf ihn niederfielen … das viel zu eng geschnittene Leinenhemd, die verwaschene Flickenjeans mit dem breiten Schlag, die protzigen Schlangenleder-Plateauschuhe, das alles musste einen optischen Schock für jeden jenseits der Vierzig auslösen. Aber das Bild der Entrüstung war erst mit der Länge seiner Haare, der blonden Strähne im Mittelscheitel und der Sonnenbrille, die er über die Stirn in die Haare geschoben hatte, komplett. Zweifellos hatte er sich verändert.

      Doch wie sieht sie wohl jetzt aus?

      Gerade wollte er die Klingel drücken, als sich die Tür öffnete.

      Wie immer erschien Tante Irmtraut in der Tür, als ob keine vier Jahre zwischen ihnen lagen, und seine Gesichtsmuskeln entglitten sekundenschnell. Fasziniert weiteten sich seine Augen und sein Mund klappte auf. Kampflos besiegt stand er vor ihr, ließ sich an die Hand nehmen und ins Haus ziehen.

      Hinter ihm verriegelte sie die Tür.

      Der Kinderhort

      23. Mai 1976

      21:30 Uhr

      Kapitel 12

      Kessie erreichte den Treffpunkt eine halbe Stunde zu früh. Er hatte es nicht weit bis zum Werksgelände.

      Natürlich kam er zu Fuß.

      Punkt 22 Uhr waren sie am Haupteingang verabredet und je näher er dem Treffpunkt kam, desto eindringlicher fixierte er die Einfahrt zum Werk. Nichts erschien ihm ungewöhnlich. Kein Hundegebell. Kein orangefarbenes Licht drang über die Mauer herüber. Georgie und die anderen waren noch nicht da.

      Sicherheitshalber ging Kessie auf der anderen Straßenseite.

      Schon immer war dieser Abschnitt der Essener-Straße schlecht beleuchtet. Aus nur zwei Laternen rieselte fades Licht herab, verreckte schnell an der hohen Werksmauer. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, um sich durch die Dunkelheit zu zwängen, doch die Sicht wurde dadurch nicht besser. Nachts glich die Essener-Straße dem Rollfeld eines stillgelegten Flughafens. Autos fuhren hier selten und noch seltener begegnete man Spaziergängern, obwohl die Straße von der stark befahrenen Langenhorner-Chaussee abging.

      Immer wieder schwirrten ihm Georgies Worte durch den Kopf – in der Küche, kurz bevor Betty dazukam. Einen Satz wiederholte Kessie immer wieder: Vielleicht ist es dir noch nicht eingefallen. Versuch’ es wenigstens. Er atmete tief durch und sah zum wolkenverhangenem Himmel auf. Oder soll ich dir erzählen, was passiert ist?

      Und dazu Georgies zersetzender Blick. Als wollte …!

      Gerade erreichte er den Jägerzaun des Kinderhorts, als ihm Betty durch den Sinn fegte.

      Oh Mann, war das ’ne Nacht gestern! Ein heftiger Schauer ergoss sich zwischen seinen Schulterblättern … Doch das gehört jetzt nicht hierher.

      Georgie hatte herausgefunden, dass der Kinderhort lange vor dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde. Irgendwann 1934 für die Kinder der Werksarbeiter und der SS-Frauen und auch für Kinder von Lagerfrauen.

      Natürlich, wusste er längst, ist der Kinderhort ein wichtiges Puzzle-Teil, während er durch den mannshohen Jägerzaun hinüber zu dem flachen Gebäude spähte.

      Betty, Georgie und er gingen in diesen Hort. Viele Jahre lang.

      Unheilvolles verbarg sich in dem düsteren Barackenbau. Das hatte er immer schon gefühlt und der heraufziehende Abend unterstrich sein Unbehagen. Gedankenversunken lehnte er am Zaun, der das gesamte Gelände wie eine besorgte Mutter umarmte.

      Dichte Tannen schützten das Gebäude, hüllten es in ein bedrohliches Schwarz und in diesem Augenblick kam ihm die Gewissheit, dass dieser Ort zwei Seelen hatte.

      Mit seinen Vorahnungen lag Georgie also gar nicht verkehrt.

      Tatsächlich mussten sie weit in die Vergangenheit zurückgehen, um alle Verknüpfungen zu entwirren. Plötzlich erhoben sich klarere Bilder vor seinem geistigen Auge und zerrten an ihm, während er noch immer durch das dichte Tannengeäst spähte.

      Eher unbewusst suchte er rechterhand eine bestimmte Tür und fand sie. Sein Blick heftete sich an diese Tür, wobei ihm Tante Irmtraut in den Sinn schoss.

      Diese schweinsfette Jungfer … groß, kantig und übermächtig. Ob die wohl noch lebte? Raue Abscheu kroch in ihm hoch.

      Damals hatte er große Angst vor ihr und noch heute schüttelte ihn allein der Gedanke an sie und ließ schlagartig seine Gesichtsfarbe ins Aschfahle sinken. Noch ekliger war ihr penetranter Schweißgeruch, der sich erbarmungslos mit ihrem billigen Parfüm vermischte. Plötzlich hatte er sogar das Gefühl, diesen Parfümgeruch einzuatmen.

      Die Waisenkammer, murmelte er und erschrak vor der eigenen Stimme. Ja, verdammt, die Waisenkammer! Mehrmals am Tag benutzte Tante Irmtraut diesen Begriff in Verbindung mit einem ganz normalen Schlafsaal für die Ein- bis Dreijährigen. Dieser Schlafsaal befand sich ziemlich am Ende des langen Flures.

      Warum nannte sie ihn Waisenkammer? Und noch während er darüber nachdachte, fand er eine plausible Erklärung, nämlich, dass der Saal zu Kriegszeiten wirklich für Waisen genutzt wurde. Für Kinder, deren Eltern plötzlich nicht mehr da waren – umgekommen im Krieg? Oder kamen sie im Werk um? Und was passierte dann mit den Kindern?


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