Kettenwerk. Georgian J. Peters
abgehalten. Letzten Sommer durfte Georgie als Balljunge mitmachen, als auch sein Vater und dessen Arbeitskollegen an einem Turnier teilnahmen.
Das machte mächtig viel Spaß.
Sanft führte die Straße bergauf, um sich nach zweihundert Metern leicht nach links zu beugen.
Die langgezogene Halle auf der linken Seite gehörte der BETHICON GmbH, eine Darmfabrik. Schmale, stark verschmutzte Fenster verhinderten die Sicht nach drinnen, dafür trat aber ständig ein beißender Gestank aus Luftschächten, Ritzen und offenen Fenstern. Ein Geruch wie Tausend faule Eier in heißer Vanillesoße.
Bisher hatte Georgie immer einen großen Bogen um diese Halle gemacht. BETHICON stellte Darmsaiten her und medizinisches Zubehör wie zum Beispiel Nahtmaterial. Die Därme kamen aus Australien.
Doch nicht nur Krankenhäuser wurden von hier beliefert.
Ursprünglich hatte BETHICON das Monopol auf die Herstellung von Darmsaiten für Tennisschläger, doch nach und nach stiegen die Tennisschläger-Hersteller auf die Nutzung von Kunstfasersaiten um. Deshalb begrenzte BETHICON sein Auftragsgebiet auf Krankenhäuser. Von diesen Dingen hatten Georgie und Kessie natürlich keine Ahnung. Es hätte sie auch wenig interessiert.
Aber warum es dort nach verfaulten Eiern stank, das zumindest wollten sie schon irgendwann herausfinden. Und dann stand eines Tages eine Seitentür offen, was ihre Neugier aufs Äußerste strapazierte. Natürlich konnten sie dieser Einladung nicht widerstehen.
Sie mussten unbedingt einen mutigen Blick ins Innere der Halle werfen. Was sie dann aber zu Gesicht bekamen, war bei weitem das Schauerlichste, was sie jemals gesehen hatten.
Auf langen, hohen Stahlgerüsten hingen tausende, hauchdünne Schnüre. Männer in hohen, schwarzen Gummistiefeln mit langen, senfgelben Gummischürzen liefen umher. Alle trugen merkwürdige Kopfbedeckungen. Ähnlich wie Nonnen … Der hintere Teil reichte weit den Rücken hinunter. Rechteckige, gelbe Fliesen bedeckten die Wände und unaufhaltsam lief Wasser an ihnen herab. Überall dampfte es und vom Boden stieg echter Nebel auf. Widerlicher, süßlicher Gestank machte es Georgie und Kessie unmöglich, durch die Nasen zu atmen, doch sie blieben standfest und beobachteten weiter.
Dort, wo die Männer hin- und herhasteten, lagen längliche Holzbohlen, die sehr glitschig zu sein schienen, weil sie glänzten.
Über den dunklen Steinboden floss ebenfalls Wasser in irgendwelche Siele ab und aus riesigen Duschen wurden die Schnüre ständig mit warmem Wasser besprüht.
„Eine Raumstation“, flüsterte Georgie.
„Ja, aber warum stinken die so doll?“, fragte Kessie.
Natürlich wusste Georgie auf diese Frage keine Antwort, doch eines wusste er: Sie hatten ein neues Geheimnis.
Das war so klar wie der frische Schnee.
Das war letzten Sommer.
„He, ich hab’ jetzt ein richtig tolles Seil“, meinte Kessie stolz, „guck’ hier“, und streckte ihm das knallrote Nylonseil entgegen.
Georgie blieb stehen, um es fachmännisch zu untersuchen. Die Farbe gefiel ihm.
„Hat meine Mutter ‚rangemacht … von der Arbeit mitgebracht.“
„Das reißt bestimmt nicht mehr“, entschied Georgie naserümpfend.
„Nee, das ist sicher, jetzt!“
Georgie fügte hinzu: „Mein Strick hält wohl auch noch ‚ne Weile.“ Beiläufig blickte er die Straße hinauf, um in derselben Sekunde vor Schreck zu erstarren.
Durch die wildtreibenden Schneeflocken kam ihnen etwas entgegen.
Eine Gestalt. Das konnte er deutlich erkennen. Sie war schon bedrohlich dicht herangekommen. Schlaff klappte ihm der Mund auf und wie festgefroren verharrte er. Nur seine Augen konnte er noch befehligen.
Auch Kessie schaute auf. Wie eine heiße Kartoffel ließ er das knallrote Seil fallen.
Auf einem Fahrrad schwebte die Gestalt heran. Völlig geräuschlos. Rechts und links liefen zwei Hunde nebenher. Die Gestalt war massig und breitschultrig und sie trug eine dunkle Uniform. Irgendwie berührte sie mit dem Fahrrad nicht den Boden, auch nicht den Schnee.
Ja, sie schweben, dachte Georgie.
Verzweifelt versuchte er, sich zu rühren. Er wollte schreien, doch er brachte keinen Laut hervor. Er wollte wegrennen, doch auch das ging nicht. Die Erstarrung löste sich nicht. Der Mann und die grässlichen Tiere waren schon auf fünf Meter herangekommen. Fast blieb Georgie das Herz stehen und nur nebenbei registrierte er, dass er gar nicht atmete.
Die Jungs starrten in ein halbseitig verbranntes Gesicht, dem das rechte Auge fehlte. Aus der schwarzklaffenden Höhle quoll dickes Blut. Der rechte Wangenknochen und ebenso das halbe Kinn waren zerfressen. Blanke Sehnen und Muskelstränge baumelten träge herab, wehten zeitlupengleich im eisigen Wind. Aus dem blutverschmierten Schlund entwich nebliger Atem, der in seinem Inneren schwärzer nicht sein konnte. Das linke Auge starrte wie tot geradeaus.
Dem Mann fehlten das rechte untere Bein und die rechte Hand. Es sah jedenfalls so aus, weil er nur mit dem linken Fuß die Pedale trat, außerdem steuerte er nur mit der linken Hand. Der rechte Ärmel hing schlaff am Körper herab.
Verzweifelt versuchten Kessie und Georgie, sich aus der Erstarrung zu befreien, doch es war, als würde sie eine fremde Kraft festhalten.
Die Hunde waren übel zugerichtet, ihr Fell war strähnig, verfilzt und mit lehmigem Dreck zersetzt. Neblige Dämpfe umhüllten sie, als würden sie stark schwitzen.
Nicht einmal die Schneeflocken schienen auf ihrem Fell zu haften, ebenso wenig auf der Uniform des Mannes. Stattdessen funkelten ihre gebleckten Reißzähne wie Diamanten und der schleimige Schaum in den Lefzen wehte in dicken Fäden heraus, was deutlich zu erkennen war. Die Augen waren weit aufgerissen und drohten, jeden Augenblick in ihren Höhlen zu explodieren. Doch die schlimmste Entdeckung waren die abgebrochenen Holzstifte, die ihnen mitten zwischen den Augen aus den Schädeln ragten – etwa zwei bis drei Zentimeter lang, deutlich zu erkennen. Im ersten Moment dachte Georgie an verklebtes Fell oder so, das wie kleine Pfeilspitzen aussah, die ihnen irgendwie in den Schädeln steckten. Aber bei beiden zugleich?
… dann wären sie ja … tot, schoss es ihm durch den Kopf.
Die Gestalt auf dem Fahrrad und die Hunde waren jetzt auf gleicher Höhe mit den Jungs. Lautlos schwebten sie an ihnen vorbei.
Sonst geschah nichts.
Für blutige Sekunden peitschten den Jungs grauenvolle Todesbilder durch die Köpfe. Reglos standen sie im Schnee.
Es schneite jetzt stärker und stärker.
„Die haben keine Spuren gemacht!“, hörte sich Kessie plötzlich schreien. Erschrocken fuhr er zusammen, da er schon die ganze Zeit aus voller Kehle zu schreien versuchte, doch nicht einmal den leisesten Hauch herausbrachte. Er konnte sich wieder bewegen. „Georgie, guck’ doch … keine Spuren!“ Noch völlig benommen versuchte er, den Kopf zu drehen: „Georgie … hast du das gesehen?“
Alles hatte er gesehen, auch die nicht vorhandenen Spuren im Schnee.
Seine Erstarrung löste sich bereits ein paar Sekunden früher.
Nach wie vor waren nur ihre eigenen Fußspuren und die Schlittenspuren zu sehen. Doch das war noch lange nicht das Unheimlichste. Eines war noch viel unheimlicher, nämlich, dass der Mann und die grässlichen Viecher spurlos verschwunden waren, obwohl es hinter ihnen keine Möglichkeit gab, nach links oder rechts abzubiegen.
Georgie schaute zurück und überlegte.
Er zeigte keine Nerven.
Längst hatte er die unheimliche Begegnung verdaut. Nur im allerersten Moment schien er geschockt. Das hier war keineswegs eine Vision. Dafür war das alles viel zu real.
Es war auch keiner seiner Träume, sonst hätte das Kessie ja nicht ebenfalls gesehen. Georgie hatte