Was Mörder nicht wissen .... Lori Moore
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„Wir fahren morgen nochmals ins Institut der Rechtsmedizin, dort erhalten wir weitere Hinweise“, sagt Norwin. Ein paar Minuten später meldet sich die Rechtsmedizinerin Linda Medi: „Morgen Nachmittag wird das Opfer obduziert.“
„Wir sind dann im Institut und treffen uns dort. Danke für die Info.“
„Nils, du bist morgen bei der Leichenschau mit dabei. Wir fahren zusammen.“
Institut Rechtsmedizin Radiologie
Schon früh am Morgen fahren Kommissar Norwin Moon und Nils Light in die Rechtsmedizin. Ein Rechtsmediziner betrachtet die Ermittlungen aus einer ganz anderen Perspektive und erklärt: „Auf diesem Schichtröntgenbildquerschnitt dieser 3D-Röntgenaufnahmen ist auf der linken Seite die Kopfwunde gut erkennbar und man sieht auch einen Riss in der Schädeldecke.“
Norwin fragt: „Ist diese Verletzung durch einen Sturz oder durch einen Gegenstand wie die Weinflasche entstanden? Kann man an so einem Schlag sterben?“
„Diese Frage können wir noch nicht beantworten.“
„Im Brustbereich ist es wegen des weichen Gewebes schwieriger. Spuren des Schusses auf dem Bildschirm zu sehen, ist nicht einfach. Auf dem Bildschirm seht Ihr viel Grau, das ist Flüssigkeit, könnte Blut sein vom Herzen her. Es ist auffallend, dass beim Einschussloch wenig Blut war. Das wäre die Erklärung, wohin das ganze Blut geflossen ist. Der Blutverlust nach innen ist sicher ein Thema. Wir werden zur Erstellung von DNA-Profilen histologische Untersuchungen der Gewebeschnittteile und toxikologische Untersuchungen von Körperflüssigkeiten oder Organen durchführen lassen.“
Woran ist das Opfer gestorben?
War es der Schlag auf den Kopf oder der große Blutverlust vom Schuss? Diese Frage ist noch nicht beantwortet.
Forensische Medizin – Klinische Obduktion/Autopsie
Die äußere Besichtigung der Leiche wurde am Tatort in der Wohnung der Toten durchgeführt. Jetzt erfolgt die innere Leichenschau, die zur Feststellung der Todesursache und zur Rekonstruktion des Sterbevorgangs durchgeführt wird. Obduktionen werden von Pathologinnen/Pathologen und Rechtsmedizinerinnen/Rechtsmediziner durchgeführt.
Die Kommissare sind für 13:00 Uhr mit Linda Medi verabredet, um bei der Obduktion der toten Frau anwesend zu sein. Sie fahren mit dem Lift in die unteren Stockwerke, wo die Leichen gelagert werden und die rechtsmedizinischen Untersuchungen (Sektionen) stattfinden. Zwei Assistenten, die Rechtsmedizinerin und die Kommissare Moon und Light sind anwesend. Die Toten werden immer nach demselben Schema geöffnet. Je nach Bundesland schneiden Gerichtsmediziner die Männer Y-förmig auf und die Frauen U-förmig. Wegen des Totenhemdes werden unterschiedliche Schnitte gemacht. Angehörige können so Abschied nehmen, ohne die Schnitte zu sehen. Wenn der Bestatter den Rechtsmediziner anruft und ihn darum bittet, dann werden diese Schnitte so gemacht. Die Ausnahme ist in Berlin, dort werden Leichen fast nicht mehr aufgebahrt.
Die Organe werden eines nach dem anderen entnommen. Je nach Leichnam ist dies oftmals eine berufliche Herausforderung. Leichen, die lange Zeit irgendwo gelegen haben, sind am ekligsten. Im Sommer gibt es viele Fäulnisleichen, wenn die Maden in der Leiche rumkrabbeln, die Fliegen herumschwirren, dann spüren das die Medizinerin mit allen Sinnen. Es stinkt unangenehm. Diesen Gestank nehmen Norwin und Nils anschließend mit nach Hause. Dieser bleibt in den Haaren und in der Wäsche so zu sagen als Andenken an diese Sektion hängen.
Für die Medizinerin ist das heute einfach eine Leiche. Sie untersucht die Organe mit allen Flüssigkeiten akribisch. Es riecht gegoren, die Hirngefäße sind sehr fein. Jedes Detail wird festgehalten. Es begeistert sie, dass man sieht, was mit einem Körper passieren kann und was die physikalischen Kräfte wie Wasser und Feuer, mit einem Körper machen können. Bei Unfällen oder Verbrechen kann das schnell gehen. Wie dünn ein Schädelknochen ist, wie fragil der Brustkorb, das ist einfach spannend. Linda Medi erkennt sehr schnell, woran eine Person gestorben ist. Sie betrachtet die Augenbindehäute. Sind dort punktförmige Einblutungen, kann das ein Hinweis auf Ersticken sein. Wenn sie keine Totenflecken sieht, dann weiß sie, dass das Opfer wahrscheinlich verblutet ist.
Es ist mehr, als nur das Herz des Toten in der Hand zu halten. Sie denkt dabei an die Angehörigen und daran, dass sie denen in die Augen schauen und sagen kann: „Die Verstorbene musste nicht leiden.“
Es kommen dann Fragen wie: „Hatte sie Schmerzen?“
„Nein, es ging ganz schnell, sie war bewusstlos, hat gar nichts mehr mitgekriegt.“
Das hilft den Menschen, es bedeutet der Gerichtsmedizinerin auch viel, dass sie jemanden trösten konnte. Wie kostbar das Leben ist, zeigt der Tod dieser Frau, Tag für Tag erlebt sie das.
In diesem Moment ist Linda glücklich. Es ist die Erfahrung, einfach nur am Leben zu sein, in diesem Moment hier zu sein. Das ist unglaublich.
Für die Angehörigen ist es hart. Sie leben in der Realität und müssen damit umgehen. Es ist schmerzhaft, mitzuerleben, wenn ein Familienmitglied verstorben ist. Schlimm wird es dann, wenn man auf ein Foto blickt und den liebsten Menschen sieht. Dann wird die Erkenntnis vermittelt, wie fragil das Leben ist. Sind wir tot, dann sind wir weg. Fotos sind alles, was von uns bleibt. Wie kann außer mit Fotos der Beweis erbracht werden, dass wir existierten? In diesem Moment ist vielen Menschen ihre Sterblichkeit bewusst. Natürlich hoffen sie alle, noch lange leben zu können. Das Leben geht weiter.
„Gibt es Fälle, bei welchen ein Rechtsmediziner an seine Grenzen und Vorstellungskraft kommt?“, will Nils unbedingt von Linda wissen!
„Ja, die gibt es. Ein Kollege der Rechtmedizin hat mir erzählt, wie Eltern ihr Kind jahrelang in einem dunklen Zimmer gefangen gehalten haben, ohne Essen, ohne Spielzeug. Die Knochen des Mädchens hatten kein Wachstum und es war total unterernährt. Er erzählte, wie er bei der Obduktion Mörtel in ihrem Magen gefunden hat. Sie hatte das vor lauter Hunger aus der Wand gekratzt.“
Nils wird langsam blass im Gesicht.
„Er erzählte auch vom Fall eines sechsjährigen Jungen. Der wurde von Hunden gejagt, niemand konnte ihm helfen. Die Hunde wurden eingeschläfert. Der Rechtsmediziner musste die beiden obduzieren, ob diese durch Kokain oder Anabolika scharf gemacht wurden. Aus dem Magen eines der Hunde hatte er das komplette Gesicht des kleinen Kindes geholt. Die Hunde waren für die Jagd trainiert. Sie hatten eine extrem starke Muskulatur.“
„Konnte der Mediziner noch weiter obduzieren?“
„Wenn er das nicht könnte, würde das seine Professionalität einschränken, das betrifft auch meine Arbeit. Wir können es uns nicht leisten, betroffen zu sein.“
Ganz benommen von dieser Erkenntnis und den Informationen, verlassen Norwin und Nils diesen Ort und verabschieden sich von Linda und den Assistenten. Morgen sind sie mit dem Waffenspezialist verabredet.
Forensische Ballistik
Die Kriminaltechniker haben in der Nähe des Tatortes die Wiese abgesucht und die mutmaßliche Tatwaffe gefunden. Die Waffe wurde eingepackt und an die Kriminaltechnik zur Untersuchung gegeben. Sie werden vom Kriminaltechniker empfangen. Beide müssen Mundschutz und Gummihandschuhe anziehen. Es ist höchste Vorsicht geboten, die Waffe könnte noch geladen sein. Der Forensiker packt die Waffe vorsichtig aus. Moon hat mit ihm bei der Tatortuntersuchung in der Wohnung die Hülse gefunden. Das Projektil lag in der Badewanne und sie konnten Schmauchspuren sichern. An seinem Arbeitsplatz im Labor erklärt der Experte: „Als erste Handlung werden mögliche Spuren gesichert. Am geriffelten Griff sind Fingerabdrücke kaum zu finden, aber vielleicht eine DNA vom Täter. Die Pistole ist eine SIG P220.“
Dann gehen sie zu dritt nach unten in den Schiesskeller. Dort wird beurteilt, ob die Waffe geladen ist oder nicht bzw. ob noch eine Kugel im Lauf ist. Hier unten müssen alle wegen des Schmauchs beim Schießen einen Arbeitskittel anziehen, Kopfhörer und Brille aufsetzen. Der Waffenexperte erklärt sein Vorgehen: „Ich nehme jetzt das Magazin heraus. Seht Ihr, es sind noch zwei Patronen darin, die Waffe war mit einer weiteren Patrone geladen. Wie leicht hätte sich