Das Liebesleben der Stachelschweine. Christian Schacherreiter

Das Liebesleben der Stachelschweine - Christian Schacherreiter


Скачать книгу
Gernot Brunmayr, Rechtsanwalt

      Die Neugermanen

       Hans-Werner Hänsel, seine Familie, sein Umfeld

      Hans-Werner Hänsel (*1974)

      Hänsels Eltern (*1948)

      Mag. Romana Jovanovic, Hänsels Lebensgefährtin (*1981)

      Mira, Romanas Tochter aus erster Ehe (*2006)

      Alma, Romanas und Hänsels Tochter (*2013)

      Astrid, Hänsels erste Ehefrau (*1973)

      Viktor, Hänsels Sohn aus erster Ehe (*1998)

      Margarete „Gretel“ Maurer, spätere Kantor (*1975)

      Dr. Severin Voglgruber, Rechtsanwalt

      Dr. Martha Voglgruber, seine Tochter, Rechtsanwältin

      Dr. Markus Urban, ihr Lebensgefährte

      Die Parteifreund*innen

      1 Jede Familie ist auf ihre Weise seltsam

      Eine Nazifamilie! Reden wir nicht drum herum! Diese Familie ist eine Nazifamilie! – So wird es auch diesmal enden, dachte Dietrich, hämisch eingeigelt in sein böses Vorvergnügen. Wie jedes Jahr zur Sommersonnenwende werden spätabends am Lagerfeuer die Aversionen des Pernauer Germanenbluts hochkochen und die braune Brühe zum Überlaufen bringen. Und wieder einmal wird es der alkoholisierte Reinhard sein, der nach turbulentem Gespräch unter dem Sternenhimmel hohnlachend verkünden wird: Diese Familie ist eine Nazifamilie! Mutti wird aufschluchzen. Joachim wird seinen ungezogenen kleinen Bruder väterlich maßregeln: Schweig jetzt, Reinhard, du hast getrunken! Aber Reingard wird ihrem hassgeliebten Zwillingsbruder therapeutisch beispringen: So lass ihn doch! Das muss raus aus ihm! Soll er daran ersticken?

      Nazifamilie, dachte Dietrich, das ist doch übertrieben, aber wir lassen sie nicht verdunsten, unsere gruselige Aura, obwohl die drei Parteigenossen Onkel Heinz, Tante Berta und Opa schon seit Jahren vor sich hinstauben in ihren Urnen. Ich glaube, wir brauchen das. Nazifamilie. Huh! Auch das Böse gibt Profil.

      Böse war Opa eigentlich nicht. Nach Dietrichs Einschätzung war er der Harmloseste im braunen Trio, ein glühender Nazi der ersten Stunde zwar, wie er freimütig bekannte, mit siebzehn schon Illegaler, aber nie mehr als ein einfaches Parteimitglied. Im Krieg wurde der Medizinstudent als Sanitäter an der Westfront eingesetzt, wo er sich elegant und unauffällig durch die Jahre schlängelte. „Auf die Franzosen!“, sagte Opa, wenn er des Erbfeinds feine Weine trank, „ich mochte sie immer, auch im Krieg, ein altes, stolzes Kulturvolk. Wenn die 1919 ihre Scharfmacher unter Kontrolle gebracht hätten, dann gäbe es die deutsch-französische Freundschaft schon seit den Zwanzigern.“ Siebenundvierzig holte Opa seinen Abschluss nach und ließ sich am Land als Allgemeinmediziner nieder, mit ihm seine Frau Agnes und der fünfjährige Otto, gezeugt während eines Heimaturlaubs.

      Opas Bruder Heinz Albert saß 1947 noch im Gefängnis. Bei SS-Männern schauten auch die Amerikaner genauer hin, aber die wenigen Aussagen über Heinz Alberts Beteiligung an Kriegsverbrechen in der Ukraine blieben zu vage, um daraus eine überzeugende Anklage zu machen. Onkel Heinz wurde freigesprochen, studierte in Rekordzeit Jura und trat in die Anwaltskanzlei eines ehemaligen Parteifreundes ein, in der er bald Partner wurde. Er war Mitglied des VdU, hielt sich aber politisch im Hintergrund, überließ die Aktivitäten seiner Frau Berta. Als leidenschaftliche BDM-Führerin – so ihre Selbstdarstellung – habe sie wertvolle Erfahrungen gesammelt, die eine junge Partei in der Aufbauphase gut brauchen könne, hauptsächlich im Organisatorischen.

      In der Großfamilie wusste man, dass Berta und Heinz Albert jährlich am 20. April in ihrem Partykeller bei zugezogenen Vorhängen engste Freunde zu einer kleinen Festveranstaltung im privaten Kreis empfingen. Das soll man gar nicht ernst nehmen, das ist wie Fasching, sagte Opa, der selbst nie teilnahm. Über Hitler war er sich nicht einig mit seinem Bruder und noch weniger mit seiner Schwägerin. Berta ist ein Trampel, sagte Opa, ein Zellhaufen dummer Sinnlichkeit. Die träumt immer noch davon, mit Adolf einen neuen deutschen Siegfried zu zeugen. Dabei war der Führer impotent wie ein Zugochse. Na ja, und Bertas Schoß ist ja auch unfruchtbar geblieben.

      Opa war davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus als Idee groß und gut war, dass Hitler ihn missbraucht, verraten, nicht verstanden, diskreditiert und letztlich ruiniert hat. Ich war ein Mann der Konservativen Revolution, Alfred Rosenberg und Ernst Jünger, der Mythos des 20. Jahrhunderts und der Krieger im Stahlgewitter, das waren meine Jugendideale, sagte Opa, ja, ich war ein Idealist. Hitler war ein bauernschlauer Parvenü, ein neurotischer Scharlatan, dem der brave deutsche Michel naiv nachgelaufen ist – und dumme Weiber wie unsere Berta.

      Korporiert waren sie alle, wenn auch in unterschiedlichen Verbindungen. Korporiert sind wir Pernauers seit 1874, sagte Opa, das war so, das ist so und das soll so bleiben. Es ist auch so geblieben, dachte Dietrich, Vati war korporiert, Joachim ist es und ich bin es auch. Nur Reinhard ist es nicht, natürlich nicht …

      „Reinhard, schau mal kurz her!“, rief Dietrich und drückte mehrere Male auf den Auslöser, bis er seinen bezaubernden kleinen Bruder so affenartig im Bild hatte, wie er ihn haben wollte. Weiße, weite Seglerhose, cremefarbenes Gilet, kragenloses Leinenhemd, den breitkrempigen Panamahut in den Nacken geschoben, die Sonnenbrille in der einen Hand, in der anderen den goldenen Zigarettenspitz aus dem Nachlass von Onkel Harald. So posierte Reinhard und setzte sein Dandy-Lächeln für Sonn- und Feiertage ein. Fragte ihn jemand nach seinem Beruf, dann antwortete er halb raunend, halb seufzend: Flanierender Weltensammler! Diese eitle Flasche ist mein Bruder, dachte Dietrich. Weltensammler! Sammler abgebrochener Studien und gesperrter Bankkonten, das ist die treffende Antwort! Wenn Mutti ihm nicht sein halbes Erbe vorgeschossen hätte, würde er längst durch die Obdachlosenwelt flanieren. Reinhards Kapital waren die angeborene Schönheit und die ebenso unverdiente Präsentationskompetenz. Niemand konnte Hilfsbedürftigkeit so charmant an die Frau bringen wie er.

      „Rebekka, schau mal kurz her!“, rief Dietrich, dem bei Familienfeiern immer die Rolle des Fotografen aufgedrängt wurde. Dadurch kam er selbst nie ins Bild, was er manchmal als Vorteil, manchmal als Nachteil sah. Rebekka strich unsicher lächelnd das lange braune Haar aus dem Gesicht und lehnte sich spontan an ihren Reinhard, Arm in Arm, Wange an Wange, ein Leib und ein Blut, spirituell betrachtet. Rebekka war Religionspädagogin, die Fleisch gewordene Güte, Reinhards Schutzmantelmadonna, wie Joachim spöttelte. Dietrich waren sie rätselhaft, diese Frauen, die Serienmördern warmherzige Briefe ins Gefängnis schickten oder jahrelang prügelnde Alkoholiker ertrugen, in der Überzeugung, ihre selbstlose Liebe könne ruinierte Charaktere heilen. Das ist nicht nur maßlose Güte, dachte Dietrich, das ist auch maßlose Selbstgefälligkeit.

      Ganz so schlimm lag die Sache bei Rebekka nicht. Sie hatte drei Jahre in der Entwicklungshilfe gearbeitet. Aus Burkina Faso hatte sie ihren ersten Ehemann Samuel mitgebracht und eine gottgewollte Schwangerschaft, die nach der Geburt auf den Namen Sarah getauft wurde. Das Negerpüppchen, dachte Dietrich, wie alt ist sie jetzt? Vier oder schon fünf? Samuel war, als er Rebekkas letztes Sparbuch leergeräumt hatte, ohne Angabe von Gründen wort- und spurlos verschwunden. Rebekka hatte um den Verschollenen lange getrauert, ihm aber längst verziehen. „Dass er mir drei Jahre lang sein befreites Lachen geschenkt hat, wiegt alle Reichtümer dieser Welt auf.“ O ja, solche Sätze sagte diese Frau!

      Reinhard bemühte sich, einen ganz großartigen Ersatzvater zu markieren, den der Himmel geschickt hatte. Solange Rebekka alles Alltägliche übernahm, war das kein Problem für ihn. Er alberte gerne ein bisschen herum mit den kleinen Rackern.

      „Sarah, schau mal kurz her“, rief Dietrich und drückte auf den Auslöser, als die Kleine ihrem muhenden Ersatzvater gerade ein Büschel Gras in den Mund schieben wollte.

      „Ich staune immer wieder, wie gut unser Reinhard mit Kindern umgehen kann“, sagte Hildegard Pernauer gerührt.

      „Weil er die wunderbare Fähigkeit hat, sein inneres Kind zuzulassen. Das verdankt er sicher auch dir, Hildegard. Du warst ihm eine gute Mutter.“

      O ja, auch solche


Скачать книгу