Das Liebesleben der Stachelschweine. Christian Schacherreiter

Das Liebesleben der Stachelschweine - Christian Schacherreiter


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Reinhard mit Sarah sein inneres Kind entfaltete, erledigte Joachim gemeinsam mit seinen zwei Buben die Männerarbeit. Die Sonne stand schon tief, spätestens in einer halben Stunde würde sie hinter den Wipfeln verschwinden, dann sollte das Sonnwendfeuer leuchten. Jens und Nils brachten dicke Scheite vom Holzstoß, legten demonstrativ Lasten auf ihre Arme, die auf die Bärenkräfte der jungen Träger schließen ließen, und ordneten die Scheite nach Joachims Anweisung an. Über die Feuerstelle gebeugt, verhalfen die drei dem Fotografen zu einem kernigen Motiv: Drei Lederhosenhintern vor tief stehender Sonne. Dietrich drückte auf den Auslöser und sagte erst nachher: „Joachim, Jens, Nils, schaut mal kurz he-er!“

      Wo war Birgit? Wahrscheinlich in der Küche. Die Herrin der Pfannen und Töpfe. Die Meisterin von Kartoffelsalat und Ofengemüse, aber nicht nur das.

      „Birgit, schau mal kurz her!“

      „Wenn es sein muss.“ Sie seufzte und rang sich dann doch ein müdes Kameralächeln ab. Ein Zugeständnis an den werbenden Fotografen.

      „Mehr Heiterkeit, werte Frau Schwägerin, wir feiern Sommersonnenwende.“

      „Hoffentlich zum letzten Mal.“

      „Wie darf ich das verstehen?“

      „Hoffentlich zum letzten Mal hier in dieser Ruine. Du siehst ja, in welchem Zustand die Küche ist. Eure Mutter hat seit einem Vierteljahrhundert nichts mehr investiert.“

      „Das macht doch nichts. Im Gegenteil. Die Küche fügt sich optimal zum Gesamtzustand der Bruchbude.“

      Jetzt lachte Birgit und Dietrich drückte auf den Auslöser. Ein gelungenes Bild. Dietrich mochte seine Schwägerin. Eine tüchtige Frau, die anpackte, Geschmack hatte und die Dinge beim Namen nannte, ohne taktlos zu sein. Dietrich fand sie attraktiv, nicht eigentlich schön, aber sinnlich und kraftvoll, ein Weib im besten Sinn des guten, alten deutschen Wortes … groß und gut, ein biedres deutsches Weib … Das hatte er irgendwo einmal so gelesen. Hätte sich Dietrich für Frauen interessiert, dann hätte er seinen großen Bruder um Birgit beneidet.

      Salate und Koteletts waren mariniert, Grillkohle und Holzscheite in Brand gesetzt, die Tafel war gedeckt, das Bierfass angeschlagen, da kam – wie immer als Letzte – Reingard mit ihrem Waldemar. Nein, Reingard kam nicht, Reingard erschien. Die Arme gütig ausgebreitet, das Lächeln tüchtig aufgezuckert, schwebte sie auf ihre Mitmenschen zu und meinte sehr viel zu sagen und zu geben, wenn sie jedem tief in die Augen blickte und seelenvoll hauchte: Mutti … Birgit … Reinhard … und so weiter. In kunstvoll verknotete Tücher war sie heute gehüllt, rot, orange, gelb. Klar, es war Sommersonnenwende und Reingard sah sich im Einklang mit der wirkenden Natur. Aus ihr bezog sie die magischen Kräfte, die teils ins Schöpferische drängten, teils ins Heilsame. Dieselben Frauenhände, die dem formlosen Ton seine Gestalt gaben, konnten auch, einfühlsam aufgelegt auf die richtigen Körperstellen, negative Energiefelder absaugen und positive zuleiten.

      Dietrich grinste unschön. Er war sicher, dass es Reingards inspirierte Handauflegung war, die Waldemar dazu veranlasst hatte, nach vierzig Ehejahren seine Frau zu verlassen und der schönen Magierin nachzustellen, die um drei Jahrzehnte jünger war als er. Waldemar war ein reicher Mann. Seiner angehimmelten Lebensgefährtin hatte er ein Haus samt Atelier und Heilpraxis geschenkt.

      Dass Waldemars Ehefrau Annegret, mit der er vier erwachsene Kinder hatte, nicht in die Scheidung einwilligen wollte, sorgte in der Familie Pernauer immer wieder für Entrüstung.

      „Wie kann man nur so hartherzig und stur sein“, schimpfte Mutter Hildegard.

      „Gekränkte alte Frauen sind schlechte Verliererinnen“, meinte Joachim, auch Reinhard artikulierte sein Unverständnis: „Dass es manchen Leuten so furchtbar schwerfällt loszulassen!“

      Reingard, die Hauptbetroffene, erkannte den charakterlichen Schwachpunkt ihrer Kontrahentin. „Der geht es doch nur ums Geld.“ Rebekka hingegen seufzte: „Ach, Gott, ich hoffe, es gibt eine Lösung, die euch alle glücklich macht.“

      „Birgit, was meinst denn du? Sag doch auch, dass das eine unmögliche Person ist!“, forderte Hildegard, aber Birgit blieb ausdrucksarm und wortkarg: „Ich kenne sie nicht.“

      Dietrich führt seine Kamera von Motiv zu Motiv: Koteletts brutzeln appetitlich auf dem Holzkohlengrill. Klick. Joachim schlägt das Bierfass an. Klick. Der erste Schwall landet auf seinem Trachtenhemd. Verdutztes Joachim-Gesicht. Schadenfrohes Gejohle. Klick. Klick. Klick. Reinhard räkelt sich barfüßig im Liegestuhl und singt dröhnend Wenn der Sommer nicht mehr weit ist … Na meinetwegen, denkt Dietrich. Klick. Und jetzt: Rebekka und Birgit tragen Brot, Salat und Gemüse aus der Küche in den Innenhof und werden mit Applaus und Ahhh-Lauten empfangen. Klick. Klick. Reingard stößt mit Hildegard an, sie hebt das Prosecco-Glas und sagt auf ihre unvergleichliche Art: Mutti, auf einen Sommer, reich an Wundern … Klick? Nein. Dietrich weiß, wie gut Reingard auf diesem Foto wieder aussehen wird. Das gönnt er ihr nicht. Reingard gehört zu den wenigen Menschen, an denen selbst ein fotografierender Mephisto scheitern würde. Du meinst, du hättest die Dummheit fotografiert, die Verlogenheit entlarvt, die Obszönität an den Pranger gestellt. Aber was siehst du auf dem Bild? Den Geist, die Unschuld, den Liebreiz. Unerträglich! Gäbe es einen gerechten Gott, würde er blonde Stirnlocken und himmelblaue Augen verbieten!

      Jens und Nils sprangen über das Sonnwendfeuer und überboten einander mit mutigen Posen. „Vorsichtig, Nils, nicht aufs Denken vergessen!“, warnte Birgit ihren Jüngeren, aber dann war es der ältere Jens, der die Großen mit einer spektakulären Pirouette beeindrucken wollte, dabei in unvorteilhafte Schräglage geriet, beim Aufsetzen stürzte und nach drei Sekunden Schockgesicht in kreischendes Flennen ausbrach. „Plärr nicht so kindisch“, ärgerte sich Joachim, „ist ja nichts passiert.“

      „Essen ist fertig“, rief Waldemar, der sich um das Grillgut gekümmert hatte.

      Essen! Dietrich greift schnell zur Kamera, denn das ist für ihn die beste Zeit. Der Mensch mag sich noch so sehr um kultiviertes Verhalten bemühen; wenn er isst, wird das Tierische sichtbar und bietet immer das eine oder andere Motiv für einen blamablen Schnappschuss. Dietrich lauert mit Adleraugen: Womit müht sich denn Mutti da ab? Mit einer Flachse oder mit ihrem dritten Gebiss? In Rebekkas Mundwinkel klebt ein herzförmiges Salatblatt. Skurril. Joachim fährt, bevor er den Bierkrug ansetzt, seine Lippen aus wie einen Schweinerüssel. Reinhard quatscht immer, also auch mit vollem Mund. Grauslich, denkt Dietrich und freut sich. Klick. Klick. Klick.

      „Du bist doch auch noch spät Mutter geworden“, sagte Rebekka zu Birgit und nahm einen großen Schluck vom Rotwein.

      „Na ja, bei Nils war ich vierzig. Warum fragst du?“

      „Ich bin jetzt neununddreißig.“

      „Bist du schwanger?“

      „Nein, aber Reinhard und ich sollten auch ein gemeinsames Kind haben, finde ich, das würde unsere Liebe stärken.“

      „Aha … Sieht er das auch so?“

      „Irgendwie – schon.“

      „Irgendwie?“

      „Grundsätzlich wünscht er es sich auch. Aber er meint, er sei noch nicht so weit. Er hat dafür ein berührendes Bild.“

      „Da bin ich mir sicher. Ist es zitierbar?“

      „Meine Vagabundenseele muss in diesem Leben weite Wege gehen.“

      „Meine Güte!“

      „Rebekka! Birgit! Schaut mal kurz he-er!“ Dietrich gönnte seinen Schwägerinnen dieses nette Motiv: Vertrauliches Frauengespräch. Das dunkle Blau von Birgits Sommerdirndl. Das etwas hellere Petrol von Rebekkas Shirt. Vor den Frauen die halb gefüllten Rotweingläser, hinter ihnen die Wand mit wildem Wein. Klick. Ausnahmsweise kein Meuchelbild!

      „So, Dietrich, jetzt ist aber Schluss mit Fotoshooting!“, sagte Birgit. „Du hast noch nichts gegessen und bist selbst sicher auf keinem einzigen Bild zu sehen. Gib mir die Kamera und hol dir was vom Grill, bevor meine Jungs ihn leer gefressen haben.“


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