John Coltrane. Peter Kemper
Peter Kemper
John Coltrane
Eine Biographie
Reclam
2., vollständig durchgesehene und erweiterte Auflage
2017, 2020 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,
Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: John Coltrane, Newport Festival 1960. Photographie von William Claxton. Photograph by William Claxton / Courtesy Demont Photo Management
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961200-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020603-4
Das Rätsel Coltrane
In den letzten Monaten seines Lebens schien John Coltrane an die Grenzen des musikalisch Sagbaren gekommen zu sein. In Konzerten des Jahres 1967 nahm er wiederholt auf dem Höhepunkt eines Solos plötzlich sein Saxophon aus dem Mund, trommelte auf seine Brust und keuchte nur noch einen Singsang in das Mikro. Rashied Ali, seit November 1965 Schlagzeuger in John Coltranes Quintett, erinnerte sich später an diese skurrilen Situationen: »Ich sagte dann: ›Mensch, Trane, warum machst du das, warum haust du dir auf die Brust und heulst in das Mikrophon?‹ Und er sagte: ›Mann, mir fällt nichts mehr ein, was ich auf meinem Instrument noch spielen könnte.‹ Er hatte das Saxophon vollkommen ausgeschöpft. Er fand nichts mehr, das er darauf hätte spielen können, ihm ging sozusagen das Saxophon aus.«
Diese Anekdote ist bezeichnend: Bis zur vollkommenen Selbstaufgabe erforschte Coltrane in den zwei Jahrzehnten seiner Karriere sein Instrument und trieb es in gänzlich neue Ausdrucksbereiche. Je weiter er sich von der Melodik des Rhythm ’n’ Blues, von den Akkord-Brechungen des Bebop und der Skalen-Weite des modalen Jazz entfernte, am Ende nur noch sprachähnliche Schreie auf seinem Horn produzierte, umso stärker wurden ihm zugleich die Beschränkungen des Instruments als einer bloßen »Prothese der Seele« bewusst. So war es letztlich nur konsequent, dass er in Momenten höchster Ausdrucksintensität auf dem Saxophon verstummen musste. Ihm gingen nicht nur die Noten aus, das Musikinstrument selbst erwies sich als untauglich, die spirituelle Fülle, die Coltrane in seinem Innern verspürte, noch zu artikulieren. Die Rückkehr zum archaischen Ritual – es hat seinen Ursprung in den frühesten Menschheitstagen – wirkt wie Regression und verzweifelte Befreiung zugleich.
Es ist dieser oft schmerzhafte, von Irrwegen und Brüchen keinesfalls verschont gebliebene Befreiungsprozess aus musikalischen Konventionen, der die Biographie John Coltranes so aufregend macht. Während sein Lebensalltag – sieht man von Alkohol- und Drogenproblemen in den frühen Jahren einmal ab – relativ ruhig und gleichmäßig, in geordneten Bahnen verlief und keinesfalls durch jene Exzesse und Zügellosigkeiten geprägt war, wie man sie von Jazzmusikern in ihrem Privatleben eigentlich erwartet, entwickelten sich die wahren Abenteuer in Coltranes Kopf. Lebenspralle Anekdoten, die seine Person in grell entlarvendem Licht erscheinen lassen, sucht man bei ihm vergebens. So lassen sich seine biographischen Wegmarken – es gibt inzwischen sogar eine Tag-für-Tag-Chronologie seiner musikalischen Aktivitäten – vollständig nachzeichnen, ohne dass man dem Geheimnis von Coltranes anhaltender Faszinationskraft damit auch nur einen Schritt näher kommen würde.
Worin besteht der eigentümliche Zauber seiner Musik, der uns noch heute berührt, und welche Motive, Inspirationsquellen und Triebkräfte verbergen sich hinter den Sound-Explosionen seines Saxophonspiels? Wie kann man dem Mysterium seines Klangs auf die Spur kommen und dabei zugleich den Menschen hinter der Musik kennenlernen?
Der »Fall Coltrane« ist vor allem ein Fall für die Ohren: Anhand seiner Schallplattenaufnahmen kann der Hörer die Geschichte eines erfolgreichen wie letztlich aussichtslosen Kampfes gegen die künstlerischen Beschränkungen durch die Umwelt nacherleben. Er kann sich mittels der stets vorwärtsdrängenden Musik in die Psyche des Musikers und in die Umstände seiner Zeit hineinversetzen und selbst auf eine rücksichtslose Reise der Ich-Erkundung gehen: Vom Bebop zum Free Jazz, vom schützenden Hort formaler Strukturen zur erschreckenden Einsamkeit der Freiheit. ›Trane‹ – so sein Spitzname – war ein Antreiber und ein Getriebener zugleich: Seine Musik in den Sechzigern klingt wie ein dahindonnernder Hochgeschwindigkeitszug, der zwar noch einen Lokführer besitzt, aber, einmal in Fahrt gebracht, auch von diesem nicht mehr zu stoppen ist. In nur sieben Jahren – 1960 gründete er nach dem Ausscheiden bei Miles Davis seine eigene Gruppe – trieb Coltrane den Jazz aus dem sicheren Hafen des modalen Jazz weit aufs offene Meer hinaus, indem er am Ende auch noch die Halteleinen der Tonskalen über Bord warf, um einsam im Ozean seiner Klänge zu schwimmen und schließlich darin zu versinken.
Es gibt wohl keinen Jazzmusiker im 20. Jahrhundert, der in so kurzer Zeit eine so rasante und zugleich radikale künstlerische Entwicklung durchlaufen hat wie John Coltrane. Seine ganze Karriere war eine Folge von Häutungen: Hatte er einen Stil erst einmal erforscht, war er für ihn uninteressant geworden, und er wandte sich – oft zum Leidwesen seiner Fans und der etablierten Jazzkritik – etwas Neuem zu, das, in seiner Substanz bereits erahnbar, in seinen Konturen aber noch unscharf blieb. Coltrane war ein Suchender aus Passion.
In seiner einundzwanzigjährigen Karriere – vom namenlosen Mitglied einer Militärband 1946 auf Hawaii bis zur Vaterfigur des Free Jazz 1967 in New York – stellte er den Jazz vom Kopf auf die Füße, oder auf die Knie eines Betenden. Am Ende seines Lebens ging es nur noch um Sound, um den puren Klang, der alle kompositorischen Anstrengungen, alle solistischen Formen und Strukturen hinter sich gelassen hatte. Der Klarinettist Jimmy Giuffre erinnert sich: »Es war, als ob er nackt auf der Bühne stehen, die Musik aus dem Mann, nicht aus dem Instrument kommen würde.«
John Coltrane verkörpert den seltenen Fall einer künstlerischen Evolution, die zugleich eine Revolution war. Man kann sich seinen Weg anhand weniger musikalischer Stationen vergegenwärtigen. 1958 prägte der Jazzkritiker Ira Gitler den Terminus »sheets of sound«. Er umschrieb damit ein unerhörtes Phänomen, das er – nach Coltranes Lehrjahren bei Thelonious Monk – in dessen Saxophonspiel ausgemacht hatte: Die in rasend schnell gespielten Sechzehntelnoten zerlegten Tonleitern und Arpeggios reihen sich so dicht aneinander, dass beim Hörer die Illusion von Soundflächen entsteht. Diese »sheets of sound« sollten fortan zum Markenzeichen Coltranes werden.
Im Frühjahr 1959 nahm er mit der Miles-Davis-Band das epochale Album Kind of Blue auf. Nur vier Wochen später antwortete Trane auf das intim-gelassene »So What« mit seiner vertrackten Komposition »Giant Steps« – an den äußersten Grenzen funktionsharmonischer Logik. Im darauffolgenden Jahr trieb er auf dem damals exotisch wirkenden Sopransaxophon die sentimentale Musical-Melodie »My Favorite Things« durch einen Irrgarten modalen Skalenspiels. 1961 erzeugte Trane in dem Stück »Africa« die Dschungel-Atmosphäre eines brodelnden Bigband-Sounds und entdeckte in der Komposition »Olé« die Verheißungen arabischer Tonalität. Die rauen, ungestümen Kollektivimprovisationen von Live at The Village Vanguard im selben Jahr schockierten die Jazzwelt. Die Kritiker des Down Beat, mit ihrer damals an Allmacht grenzenden Deutungshoheit, warfen Coltrane »Anti-Jazz«-Tendenzen vor. Zwischendurch nahm er immer wieder versöhnliche Platten wie Ballads oder John Coltrane & Duke Ellington auf, wo er den melodischen Schmelz seines Saxophonspiels genüsslich auskosten konnte. 1964 folgte dann mit A Love Supreme ein religiöser Schock: Spiritueller Irrweg? Meditative Innerlichkeit statt schwarzer Befreiungsmusik? Dieses Album gilt als Schlüsselwerk in Coltranes Leben: summierender Rückblick und visionärer Vorgriff auf Kommendes. Für viele stellt es den Höhepunkt in seinem Werk dar. Die achtköpfige Kollektivimprovisation Ascension vom Juni 1965, durchsetzt mit Mini-Soli, wirkte in ihrer intuitiven Kraft, ihrer Klanggewalt und hymnischen Eindringlichkeit beispiellos. Selbst Ornette Colemans Free Jazz-Album klang dagegen wie eine