John Coltrane. Peter Kemper
neu erfunden: als gleichberechtigtes Kollektiv, als gemeinschaftliche Interaktion, die ihre strukturelle Zielrichtung aus dem Augenblick heraus definierte. Fast wirkte Ascension wie ein sozialistisches Experiment mit Klängen, zumindest aber wie eine hymnische Feier des radikal-demokratischen Spielideals.
Coltrane schien inzwischen eindeutige Qualitätskriterien für seine Musik abzulehnen: er wollte sie nicht mehr mit Werturteilen beschweren und rational einordnen. Spätestens ab 1965 – nicht zuletzt unter dem Einfluss seines zweiten Saxophonisten Pharoah Sanders und der a-rationalen Spielhaltung eines Albert Ayler – wurde Coltranes Klangwelt zunehmend von einer meta-musikalischen Logik beherrscht, die allein intuitiven Regungen der Gefühle, Nervenreaktionen und assoziativen Gesten gehorchte. Ende 1966 – nach einer umjubelten Japan-Tour – hatte Coltrane die Club-Gastspiele mit ihren 45-minütigen Sets endgültig satt. Er wirkte jetzt ein wenig müde, eine Krebserkrankung hatte bereits ihre Spuren in seinem Körper hinterlassen. Der geschwätzigen Sprache misstraute er fortan mehr und mehr: Sein letztes, zu Lebzeiten fertiggestelltes Album Expression sollte dezidiert ohne erklärenden Covertext auskommen. Coltranes Musik seiner letzten Lebensjahre lässt sich weniger verstehen als vielmehr erspüren. Sein Freund Don DeMichael hat versucht, ihr Geheimnis zu fassen: »Sie öffnet einen Teil meines Selbst, der normalerweise fest verschlossen bleibt. Halbverschüttete Gefühle und Gedanken dringen durch diese offene Tür ins Freie und durchströmen mein Bewusstsein.« Jazz als Therapie, als Selbstermächtigung und sozialer Indikator.
In den Sechzigern, der Blütezeit Coltranes, wurde die improvisierte Musik als radikale, innovationshungrige Kunstform zur Protest-Folie einer weltweiten Aufbruchsbewegung hochstilisiert. In den brodelnden Kollektiv-Improvisationen von Ascension und den Aufnahmen des späten Coltrane-Quintetts glaubte man die Straßenkämpfe rebellierender Afroamerikaner zu hören. Die wilden Schreie der Saxophone konnten als reale ›Wutschreie‹ der Unterdrückung verstanden werden, die gewalttätigen Eruptionen am Schlagzeug als Rhythmus der ersehnten Revolution. Musik galt jetzt nicht länger als Kriterium für Musikalität, sondern als Maßstab für politisches Bewusstsein, für die Fähigkeit eines Musikers, seine geschundene Seele in die Freiheit zu entlassen, Klänge mit visionärer Verheißung aufzuladen. Kunst und Leben vermischten sich in dieser Perspektive bis zur Ununterscheidbarkeit.
Auch der Jazz gehorchte damals diesem Hippie-Mythos, nach dem Musik eine »Kunst der Zukunft« zu sein hatte: Vorschein einer besseren Welt, Utopie der Befreiung. Coltranes Sound-Explosionen fielen zeitlich mit dem Black-Power-Slogan, mit dem provozierend selbstbewussten schwarzen Boxweltmeister Muhammad Ali, mit der panafrikanischen Vision eines Malcolm X, den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und der militanten Attitüde der Black Panthers in den USA zusammen. Und auch in der weißen, westlichen Gesellschaft formierte sich seit Mitte der Sechziger eine soziale Protestbewegung, die von Studenten, Künstlern und Intellektuellen vorangetrieben wurde. Dies war der sozialpsychologische Nährboden, auf dem der Free Jazz eines John Coltrane seine ästhetische Sprengkraft entfaltete.
Eine solche Überhöhung des Jazz zum Soundtrack sozialer Veränderungen erscheint heute, wo die klassizistische Bekehrungswut eines Wynton Marsalis am New Yorker Lincoln Center den Jazz längst als virtuos beglaubigte »l’art pour l’art« re-definiert hat, hoffnungslos romantisch und anachronistisch: Jazz soll zuallererst als Kulturgut verteidigt werden, will er seine Subventionsansprüche rechtfertigen und überleben. John Coltrane, der sich in seinen späten Jahren immer weiter vom Kernbestand des Swing entfernte, immer weniger Wert auf stilistische Reinheit und Virtuosität legte, immer mehr den Sound anstelle von Musikalität kultivierte, muss vor diesem Hintergrund fast wie ein Störenfried erscheinen. Wynton Marsalis vermutet deshalb auch, dass Coltrane ein »Opfer der Sechziger« war, der dem »radikalen Chic« verfiel und seine sorgsam ausgearbeitete Technik mutwillig über Bord warf, um schließlich im Außermusikalischen zu landen. Den Komponisten der Giant Steps dagegen verehrt Marsalis und widmete ihm bereits mehrere Konzertreihen am Lincoln Center.
John Coltrane wirft noch immer einen riesigen Schatten – trotz all der »young lions« und einer inzwischen alt gewordenen Avantgarde. Der Jazz hat sich längst professionalisiert: Akademisch gut ausgebildete junge Saxophonisten können mühelos jede Menge Coltrane-Soli aus dem Ärmel schütteln, oder besser: vom Blatt spielen. Sie müssen sich den Raum musikalischer Freiheit nicht unter Mühen erkämpfen, sondern bewegen sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit darin – wie Coltrane damals im Stilrahmen des Bebop. Und doch fehlt ihrem Spiel in aller Regel jene Intensität der Erregung und die erschreckende Unbedingtheit, die die improvisierte Musik zu Zeiten Tranes und zuvor Parkers auszeichnete. Schon Lester Young pflegte bei hochgezüchtetem technischen Virtuosentum eines Spielers zu fragen: »Schön und gut, Mann … aber kannst du mir auch einen Song singen?«
Coltranes Leidenschaft war einfach zu persönlich, als dass man sie simulieren könnte. Selbst wer all jene Töne und Tontrauben perfekt reproduzieren kann, die zum Markenzeichen Coltranes wurden, schafft es nicht, damit die Passion Tranes zu kopieren. Der Jazzpublizist John Litweiler bringt es auf den Punkt: »Diese Soli bewegen uns so eindringlich, weil wir in ihnen unsere eigenen Kämpfe gegen Selbstzufriedenheit, gegen Ängste erkennen: sie streben immer nach dem Unbekannten. […] Und die Konflikte von John Coltranes Musik, der innere Aufruhr des Lebens, erwiesen sich als kommunikativer als sämtliche anderen musikalischen Aussagen der Free-Jazz-Ära.« Daher kommt es, dass noch immer so viele Jazzfans eine Geschichte darüber erzählen können, wann sie zum ersten Mal mit Coltrane in Berührung kamen und wie er ihr Leben und ihre Weltwahrnehmung veränderte.
Bestimmte Schlagworte kehren in der Beschreibung seines Wesens immer wieder: Prophet, Hohepriester, Wahrsager, Fackelträger, Suchender. Doch die Charakteristiken seiner Musik lassen sich eher in Begriffen wie »Integrität«, »Wahrhaftigkeit«, »Reinheit«, kurzum: als Moralität begreifen. Sein Ruf gründet nicht zuletzt darauf, dass er als ein gegenüber allen kommerziellen Verlockungen standfester und prinzipientreuer Musiker gesehen werden kann, der mit seltener Konsequenz seinen Weg ging. Der vielfach ausgezeichnete Saxophonist und erklärte Coltrane-Anhänger Christof Lauer ist überzeugt: »Junge Leute wurden von ihm in den Sechzigern deshalb so stark angesprochen, weil er sie spüren ließ, dass er bereit war, für seine Überzeugungen zu kämpfen. Diese unbedingte Aufrichtigkeit hat sie fasziniert!«
Wenn eine Qualität Coltranes Spiel charakterisiert, dann ist es Hingabe. Der scheue, verschlossene Junge erwarb sich sein Genie erst durch manisches Üben. Zeitzeugen berichten einhellig: Wenn er nicht spielte, übte Coltrane, und wenn er nicht übte, dann las er. Coltrane war das Musterbeispiel für den heute so geschätzten Typ des »lebenslang Lernenden«. Der Sänger und Gitarrist David Crosby erinnert sich beispielsweise an ein Konzert, in dem Coltrane sein Solo beendete, indem er einfach von der Bühne ging, ohne aber mit seinem Spiel aufzuhören. Während McCoy Tyner an der Reihe war, spielte Coltrane in der Garderobe während des gesamten Klaviersolos einfach weiter und kehrte – immer noch spielend – auf die Bühne zurück. Die Szene wirkte damals auf Crosby, als folge Coltrane hier einem inneren Antrieb, der ihm verbot, mit dem Saxophonspiel aufzuhören. Sein Saxophon-Kollege Wayne Shorter glaubt dagegen, dass der Grund für Coltranes panischen Übungsdrang in der Vorahnung eines frühen Todes gelegen habe: »Er muss irgendwas über sein Schicksal gewusst haben. Vielleicht dachte er: Ich muss mich beeilen.«
Von seinen Zeitgenossen wurde Coltrane immer wieder als ruhig, in sich gekehrt, ja, als ein bisschen schüchtern geschildert. Vielleicht ist er auch deshalb als der nachdenkliche Intellektuelle in Erinnerung geblieben, der den Jazz mit Giant Steps zeitweilig zur Theorie-Lektion machte und eine neue Ernsthaftigkeit in die Szene brachte. Gleichzeitig war er der innovative Brückenbauer zu fremden Musikkulturen. Coltrane öffnete den Jazz für asiatische, afrikanische, arabische und spanische Einflüsse. Zugleich galt Trane als begnadeter Sammler, der alle musikalischen Entwicklungen um ihn herum, die stilistischen Innovationen und Experimente, aufsog wie ein Schwamm und im eigenen Personalstil amalgamierte.
In seinem oft klagenden Ton schwang immer ein Versprechen auf etwas noch Unbekanntes, Geheimnisvolles mit, das trotz seiner bedrohlichen Konturen ungleich verlockender wirkte als all die gängigen Jazz-Klischees. Vor allem bleibt deshalb im Rückblick das Bild eines ekstatischen Mystikers, der musikalische Erlösung in der Religion suchte, das role model des meditativen und kontemplativen Sehers, der rauschhaftes