John Coltrane. Peter Kemper

John Coltrane - Peter Kemper


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kleinen Schneiderei. Dennoch erreichten die Coltranes nie den sozialen und wirtschaftlichen Status, den die Blairs erworben hatten.

      Da beide Großväter als Prediger und Vorsänger in der AME Church wirkten, lernte der junge John Coltrane, der jeden Sonntag die Kirche besuchte, schon früh, die transzendentale Wirkung von Musik zu verinnerlichen. Oft hat man ihm später nachgesagt, er versprühe in seiner Musik das erhebende Gefühl von Baptisten-Predigern – dabei waren seine Großväter doch eher als brave Methodisten tätig: In ihren Gotteshäusern wurden kaum Spirituals und geistliche Hymnen gesungen, ihre Kirche galt als nüchterner, als eine Mainstream-Kirche – im Vergleich zur bluesbasierten Holiness-Church mit ihren »Speaking-in-Tongues«-Ekstasen.

      Als Johns Eltern, Alice Blair und John Robert Coltrane, sich kennenlernten, arbeitete John Robert in Deacon Johnsons Schneiderei, während Alice nach ihrem Schulabschluss als Hauswirtschafterin angestellt war. Im Jahr 1925 heirateten die beiden. Zunächst lebte das Paar in einem kleinen Appartement, im zweiten Stock einer Pension in Hamlet. Nach der Geburt ihres Sohnes John William Coltrane zog die junge Familie Ende 1926 in den nächstgrößeren Ort, zur Familie Blair in die Price Street nach High Point, einer von Quäkern gegründeten Stadt. Doch schon bald wurde das Mietshaus für die Großfamilien zu eng, zumal auch Alices ältere Schwester Bettie mit ihrem Mann Goler Lyerly und ihrer Tochter Mary unter demselben Dach lebte. Coltranes Großvater, Reverend Blair, beschloss daraufhin, ein eigenes, größeres Haus zu bauen. 1933 zog der Blair-Coltrane-Clan endlich um in die neue Heimstatt, Underhill Avenue 118. Underhill zählte damals zum besseren Teil des Schwarzen-Viertels von High Point, hier lebten Lehrer und Ärzte.

      Noch immer ernährte Johns Vater die Familie durch seine Schneiderarbeiten, obwohl er jetzt einen eigenen »pressing club« besaß, eine Art Heißmangel, der auch eine kleine Reinigung angeschlossen war. Coltranes Mutter übernahm zunächst die Rolle der fürsorglichen Hausfrau – später unterstützte sie ihren Gatten als Näherin. Coltranes Vater versuchte sich zwar gelegentlich als Hobby-Musiker an der Violine und Ukulele, doch wenn er zu Hause war, erlebte der kleine John ihn eher als schweigsamen Menschen. Die Mutter hingegen hatte Klavierunterricht erhalten und während der Gottesdienste ihres Vaters Orgel gespielt. Zudem entwickelte sie zunehmend Interesse an der Oper. Durch dieses familiäre Umfeld kam John früh mit der religiösen, im Wesentlichen oralen Kultur in Kontakt: Er hörte die Predigten seiner Großväter, Blues-Schallplatten auf dem Grammophon und im Radio schon früh die Sounds schwarzer Bigbands. Der Trompeter Don Cherry hat später einmal bekräftigt: »Wenn man in eine schwarze Familie hineingeboren wurde, schwamm man regelrecht in Musik.«

      Nach den sonntäglichen Gottesdiensten versammelte sich die ganze Familie zum traditionellen Mittagessen mit Maisbrei, Reis, Hafergrütze, gebratenem Huhn, Maisbrot, Kohlblättern und der unvergleichlichen »sweet potato pie«, die lebenslang Coltranes Lieblingsnascherei bleiben sollte. Der Middle-Class-Haushalt, in dem Coltrane aufwuchs, bot ihm früh ein Rollenmodell schwarzer Männlichkeit, das Bildung, Frömmigkeit, Würde und ein selbstbewusstes Ideal von Familienzusammenhalt vereinigte, das sich wenig um ›weiße‹ Vorurteile scherte. In seiner Kindheit muss Coltrane ein stiller Junge gewesen sein, der auf seine Umgebung immer ein wenig einsam wirkte – obwohl seine Kusine Mary oft für seine Zwillingsschwester gehalten wurde, da die beiden als Kinder unzertrennlich waren. Sein bester Freund in jenen Tagen war der ein Jahr ältere Franklin Brower, der in derselben Straße wie John wohnte. Nach seiner Erinnerung galt John Coltrane wegen seiner Liebenswürdigkeit und höflichen Art als »everybody’s darling«. Er war immer korrekt gekleidet und freundlich zu jedermann. Vielleicht hatte er deshalb auch nie einen Spitznamen, er wurde von allen nur John genannt. Während seiner Zeit auf der Leonhard Street Elementary School – er besuchte sie ab September 1932 – galt er als fleißiger Schüler und war ein so normaler Jugendlicher, dass er schon fast langweilig erschien.

      Johns sportliche Aktivitäten hielten sich in Grenzen, er spielte nicht schlecht Hallenbaseball, war athletisch, hatte aber keine großen Wettkampf-Ambitionen. Seine Rollschuhe der Marke »Union Skates« – ein Weihnachtsgeschenk – liebte er dagegen heiß und innig. Mit Freunden raste er die hügeligen Straßen in Underhill herunter, oft rückwärts, um das Risiko zu steigern. Befestigte Bürgersteige gab es damals kaum, Autos waren noch nicht verbreitet. Da John und Franklin Brower nie Fahrräder besaßen, dienten die Rollschuhe ihnen als Verkehrsmittel, um die ganze Stadt zu erkunden. Doch selbst bei ihren Streifzügen durch die Viertel der Weißen bekamen sie nie ernsthafte Probleme. »Wir kümmerten uns einfach nicht um die Weißen, empfanden auch keine Diskriminierung. In sozialer Hinsicht hatten wir einfach wenig mit ihnen zu tun« (Franklin Brower).

      Weil er als zuverlässig galt, ernannte man Coltrane zum Schülerlotsen, was allgemein als Auszeichnung empfunden wurde. Die Nachmittage mit seinen Freunden waren von normalen, jungentypischen Vorlieben geprägt: Man diskutierte über Football- und Baseball-Spiele, interessierte sich für die neuesten Automodelle und für solche existentiellen Fragen wie: »Welches ist am stromlinienförmigsten?« Dabei stimmte der junge Coltrane nie in die beliebte Heldenverehrung irgendwelcher Sportstars ein. Ihm hatten es dafür Filme und Comic-Hefte angetan, besonders die Doc-Savage-Abenteuer – eine Art Vorläufer von Indiana Jones. Laut Franklin Brower versuchten er und John sogar selbst, Comic-Stories im Stile von Doc Savage zu zeichnen, wobei John für die Bilder und Franklin für die Geschichte zuständig war.

      Doch schon bald war es mit Johns unbeschwerter Kindheit vorbei: In seinem siebten Schuljahr wurde die Coltrane-Familie von einer Reihe schwerer Schicksalsschläge heimgesucht: Am 11. Dezember 1938 verstarb der geliebte Großvater Reverend William W. Blair. Knapp einen Monat später, am 2. Januar 1939, folgte die nächste Katastrophe: John Robert Coltrane, Johns Vater, starb an einem zu spät erkannten Magenkrebs. Und am 26. April desselben Jahres wurde Johns Großmutter mütterlicherseits ebenfalls vom Krebs dahingerafft. In diese dramatische Zeit der Verluste fiel Johns radikale Hinwendung zur Musik: Er übte von Anfang an wie besessen, zuerst auf einem Althorn, dann auf der Klarinette. Nach Einschätzung des Coltrane-Biographen Lewis Porter »wurde die Musik in gewisser Weise zu einem Vaterersatz. Durch Musik konnte er seinem Schmerz Ausdruck verleihen und ihn zugleich lindern, einen Schmerz, den er sich nie vollständig eingestanden hat.« Und Johns Schulfreund David Young ergänzt: »Für eine Weile, so schien es, hatte er nichts als sein Horn.«

      Musik avancierte für John Coltrane zum wichtigsten Überlebensmittel. Zuvor hatte sich sein Interesse an allgegenwärtigen Radiohits wie Ella Fitzgeralds »A-Tisket and A-Tasket« oder Jimmy Luncefords »Margie« in Grenzen gehalten. Der Historiker und Jazzexperte Eric Hobsbawm fand später in seinen sozialgeschichtlichen Studien heraus, dass es 1929 – zu Beginn der Großen Depression – etwa 60 000 Jazzbands in den USA und etwa 200 000 professionelle Musiker gab. Am 29. Oktober 1929, am sogenannten Schwarzen Freitag, brach der Stock Market in den USA zusammen und sieben Millionen Menschen wurden auf einen Schlag arbeitslos. Die Löhne sanken um 39 Prozent und die Plattenverkäufe sogar um 94 Prozent. Doch in den dreißiger Jahren, als sich die US-Wirtschaft erholte, explodierte der Plattenmarkt: Die Verkäufe stiegen von 10 Millionen im Jahr 1931 auf 260 Millionen im Jahr 1941.

      Während seiner Highschool-Jahre schwärmten John und Franklin unter anderem für Glenn Millers »Chattanooga Choo Choo«, für Harry James’ Hit »Flight of the Bumblebee«, Cab Calloways »Minnie the Moocher« und die Stücke von Artie Shaw und Tom Dorsey. Sie besuchten kleinere Tanzveranstaltungen, die keinen Eintritt kosteten; die großen Konzerte von Jimmy Luncefords Bigband, die auch regelmäßig in High Point gastierte, waren ihnen zu teuer. Auf der Highschool fand Coltrane auch seine erste Freundin. Das Mädchen, in das er verknallt war, hieß Doreatha Nelson. Lange traute er sich nicht, die Angebetete anzusprechen, und schob zunächst seinen Freund vor. Als er dann doch mit ihr »ging«, ließ die erhoffte heiße Romanze leider auf sich warten: Man unternahm Spaziergänge oder besuchte gemeinsam allenfalls mal ein Kino. Doreatha war im Gegensatz zu John eine sehr gute Schülerin. Sein Ehrgeiz erlahmte zunehmend, als er erst einmal vom Musik-Virus infiziert war.

      Nach dem Tod von Coltranes Vater wirkte sein Onkel Goler Lyerly als Hausvorstand. Doch auch er starb im Oktober 1940 plötzlich an einem Herzanfall. Von der glücklichen Coltrane-Großfamilie waren nur noch John, seine Kusine Mary und die beiden Mütter übriggeblieben: Der einstige Mittelklasse-Haushalt verarmte zusehends. Mutter Alice und ihre Schwester Bettie arbeiteten als Bedienstete in


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