John Coltrane. Peter Kemper
Aspekt der Musik mehr und mehr.«
Am Ende seines Weges, als ihm die Worte und die Töne ausgingen, beherzigte Trane unbewusst Ludwig Wittgensteins philosophische Maxime: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Während draußen in der turbulenten Wirklichkeit der späten sechziger Jahre das soziale Rauschen immer weiter anschwoll und nicht selten in vermeintlich revolutionären Lärm überging, wurde Coltrane immer schweigsamer, zog sich mehr und mehr in die Stille seines Innern zurück. Geoff Dyer schrieb über die Beweggründe der letzten Lebensjahre: »Es ist so, als versuche er, all die Gewalt seiner Zeit in seiner Musik zu absorbieren, um die Welt umso friedlicher verlassen zu können.« Sicherlich hat auch das frühe, selbst für sein engeres Umfeld schockierend plötzliche Sterben von Coltrane – weit vor der Zeit – zu seiner Mystifizierung beigetragen. Schon zu Lebzeiten fast als ein Heiliger verehrt, wurde er nach seinem Tod durch Leberkrebs mit erst vierzig Jahren zu einem Heilsbringer überhöht, zu einer Art »Christus des Free Jazz« – von der Jazzkritik vielfach gekreuzigt, mit der Dornenkrone des »Anti-Jazz« versehen, aber immer ein Erlöser, der den Jazz zum »reinen Spiel« befreite. Inzwischen gilt er als wertvolles Kulturphänomen Amerikas. Längst ehrt ihn eine Briefmarke, eine obskure »Coltrane-Kirche« in Kalifornien feiert ihn seit 1971 als Heiligen und spielt seine Musik in den Gottesdiensten.
Hunderte von Stunden Coltrane-Musik sind mittlerweile auf verschiedenen Labels erhältlich, Millionen von Wörtern sind inzwischen über diesen Saxophon-Giganten geschrieben worden – und noch immer ist die Faszinationskraft des Mannes nicht vollständig enträtselt, der einmal über sich gesagt hat: »Ich weiß nicht, wonach ich suche, außer, dass es etwas sein muss, was noch nie gespielt oder gehört wurde.«
Der Enkel des Predigers
Kindheit und erste musikalische Gehversuche (1926–1945)
Welcher Jazzmusiker wird schon durch ein Kinderbuch geehrt? Im Jahr 2008 erschien in den USA Before John was a Jazz Giant und machte die Jüngsten mit dem Genius Coltranes bekannt. Die Zeichnerin Carol Boston Weatherford hatte einen Bilderzyklus geschaffen, der Johns Jugend im Süden der USA während der dreißiger Jahre illustriert. Der Text stammt von Sean Qualls:
»Bevor John ein Jazz-Gigant war, hörte er, wie Knochen in Großmutters Töpfen trommelten, Daddy die Ukulele schlug und Mama den Plattenspieler ankurbelte. Er hörte Dampflokomotiven vorbeipfeifen, seine Kusine Mary beim Jitterbug kichern und sah ›Bojangles‹-Stepptänze im Film. Bevor John ein Jazz-Gigant war, lauschte er Großvaters Sonntagspredigten, Mamas Orgelspiel für den Kirchenchor und hörte die Bitten des Pfadfinder-Anführers, der Fähnlein-Band beizutreten. Er nahm das Trillern der Vögel bei Sonnenaufgang wahr, das Schluchzen der Verwandtschaft bei Familienbegräbnissen und die Hurrah-Rufe, wenn er in Paraden mitmarschierte. Bevor John ein Jazz-Gigant war, lauschte er den Bigbands im Radio, seelenvollen Saxophonsoli und jenen Blue Notes, die seinen Namen riefen. Eines Tages nahm er das Horn in die Hand, blies in das Mundstück, presste seine Finger auf die Klappen und verwandelte jeden Sound, den er gehört hatte, in gewagte neue Melodien. Bevor John ein Jazz-Gigant war, war er ganz Ohr.« (Ü. d. A.)
Geboren am Nachmittag des 23. September 1926 in Hamlet, North Carolina, nahe der Stadt High Point gelegen, wuchs John William Coltrane – so sein vollständiger Geburtsname – in eine »black community« hinein, die ihre eigenen Riten, Institutionen und Sound-Ideale besaß.
Am 16. Januar 1920 hatte in den USA die Prohibitions-Ära begonnen. Ein widersprüchliches Jahrzehnt: Das Bundesgesetz, das verbot, Alkohol zu kaufen oder zu verkaufen, zeitigte bald den gegenteiligen Effekt: Tausende von illegalen Nachtclubs – »Speakeasy« genannt – schossen aus dem Boden, die Roaring Twenties nahmen ihren Lauf. Später nannte der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald die zwanziger Jahre »die teuerste Orgie in der Geschichte Amerikas«. Natürlich war dieser zügellose Hedonismus auch eine Flucht aus den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Zunächst begann die US-Wirtschaft aufzublühen: Elektrisches Licht, Kino, Telefon, Erfindungen des späten 19. Jahrhunderts, die bisher nur einer Handvoll von Menschen zugänglich waren, standen jetzt für den massenhaften Gebrauch zur Verfügung. Die Frühform einer Unterhaltungsindustrie mit Dance Halls, Musikverlagen und Clubs expandierte. Zusammen mit der Massenproduktion von Radios und Plattenspielern öffnete sich die US-Musikkultur einem weltweiten Publikum.
Während sich das Land ökonomisch liberalisierte, blieben soziale Zwänge bestehen: Nicht nur im Süden der USA grassierte in den Zwanzigern trotz der »separate but equal«-Doktrin ein größtenteils offener Rassismus. Auch John Coltrane wuchs in einer Stadt auf, die strikt die Rassentrennung praktizierte. Damals gab es in High Point beispielsweise das sogenannte »dual fountain system«: Farbige durften nur aus bestimmten Wasserspendern trinken; für die Weißen waren andere reserviert. In Kinos gab es ebenso Galerien ausschließlich für schwarze Besucher, selbst die Vergnügungsparks waren nach Rassen getrennt. Im Alltag ergaben sich immer wieder Situationen, die einen heranwachsenden Schwarzen an seinen Zweite-Klasse-Status erinnerten: Die abgetragene Schuluniform erhielt er ebenso als Spende von den bessergestellten Schulen der Weißen wie die ausrangierten Lehrbücher. Es waren kleine Kränkungen solcher Art, die noch Jahre später Coltranes Weigerung erklärten, mit seiner mittlerweile erfolgreichen Band im Süden der USA vor einem nach Rassen getrennten Publikum aufzutreten.
Der soziale Druck von außen hatte aber einen positiven Binneneffekt: Nachbarschaftshilfe und Gemeinschaftsgefühl in der »black community« waren außerordentlich gut entwickelt: Man fühlte sich wie eine große Familie. Nach damaligen Maßstäben wuchs John Coltrane in einem schwarzen Mittelklasse-Haushalt auf, obwohl die Wurzeln seiner Familie tief in die unrühmliche Vergangenheit der USA zurückreichten. Coltranes Großvater mütterlicherseits, Reverend William Wilson Blair, war auf der Skinner-Plantage in North Carolina als Sklave aufgewachsen. Doch er hatte Lesen und Schreiben gelernt, sich einen bescheidenen Wohlstand erwirtschaftet, soziale Anerkennung und genügend Autorität erworben, um drei Generationen im Hause Blair/Coltrane zusammenzuhalten. Seine eigene Jugend erlebte Blair trotz der Sklavenarbeit als relativ solide und erträglich, da die Familie intakt blieb und nicht so unbarmherzig ausgebeutet wurde wie die Sklaven im sogenannten Piedmont-Gebiet, dem Quäker-Gürtel des mittleren Carolina.
Als junger Mann arbeitete Blair zunächst als Grundschullehrer, bevor er sich politisch und religiös engagierte und schließlich hauptamtlich der African Methodist Episcopal Church (AME-Kirche) anschloss. 1882 heiratete er Alice V. Leary, die ebenfalls aus einer Familie von Sklaven stammte. Bald stieg Blair zum Pastor der St. Stephens African Methodist Episcopal Zion Church auf. Er unterhielt in High Point das regionale Büro der landesweiten AME-Organisation, war für mehrere Gemeinden zuständig und genoss – unter Weißen wie Schwarzen – hohes Ansehen als eine Art politischer und spiritueller Führer. Später attestierte Coltrane seinem Großvater mütterlicherseits eine geradezu »militante Religiosität«. Blair galt als politisch bewusster Mensch, der die »Back to Africa«-Bewegung des schwarzen Nationalisten Marcus Garvey unterstützte. So eröffnete er unter anderem eine Highschool für afroamerikanische Studenten, die auch John Coltrane später besuchte. In der Coltrane-Familie galt Blair als der unangefochtene Patriarch, der durch seine Autorität und seinen Stolz zum – wie Trane es später ausdrückte – »dominant cat« wurde und seine Souveränität, gepaart mit optimistischer Aufstiegsmentalität, nicht zuletzt aus der überwundenen Sklaven-Vergangenheit schöpfte. Später erhielt Reverend Blair sogar die Ehrendoktorwürde des Livingstone College in Salisbury, auf dem seine 1898 geborene Tochter Alice Gertrude, Johns Mutter, erfolgreich studiert hatte.
Johns Großvater väterlicherseits, Reverend William Henry Coltrane, hatte es noch schwerer: er litt in seiner Jugend unter sozialer Diskriminierung, zumal sein Besitzer, Abner Coltrane, für die schlechte Behandlung seiner Sklaven berüchtigt war und vor körperlichen Züchtigungen nicht zurückschreckte. »Blair« und »Coltrane« waren übrigens beides schottische Namen: die meisten Schwarzen in Amerika wurden damals nach ihren vormaligen Sklavenbesitzern genannt, die in der Regel englische, irische oder schottische Namen trugen. William Henrys soziale Situation verbesserte sich ein wenig, als seine Frau Helen ein bisschen Geld in die Ehe mitbrachte. Ihr Mann trat ebenfalls der AME-Kirche