USA. Hannelore Veit

USA - Hannelore Veit


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der US-Kongress ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Donald Trump einleitete. Mit so viel Ungewissheit konnten wir nicht in Druck gehen. Und nun, während wir diese Zeilen schreiben, haben landesweite Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus das Land in neue Unsicherheit gestürzt. Wieder mussten wir Kapitel umschreiben, neu schreiben oder auf den neuesten Stand bringen.

      Wie schreiben über ein Land, das seit vier Jahren kontinuierlich von einer Krise in die nächste zu schlittern scheint? Wie in Buchform berichten über eine Nation, deren tagesaktuelle Entwicklungen so rasant vorbeirasen, dass sie selbst dem hyperaufmerksamen und geschulten Journalisten und Medien-Junkie regelmäßig Schwindel bereiten?

      Diese Frage stand am Anfang unseres Buchprojekts. Es sollte kein Buch über den US-Präsidenten werden, der mit oft bizarren Auftritten, mit seinen medialen Inszenierungen und seinen autoritären Instinkten ohnehin seit vier Jahren täglich die nationale und internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ebenso wenig wollten wir ein Buch über den Wandel der amerikanischen Außenpolitik schreiben, wenngleich uns Europäer dieser Aspekt am meisten betrifft und vor den Kopf stößt. Stattdessen wollten wir Amerikaner ins Zentrum unseres Buches stellen und die Menschen selbst zu Wort kommen lassen: US-Bürger aus allen Gesellschaftsschichten und Landesteilen, die wir im Zuge unserer vielen Reportagereisen als ORF-Korrespondenten getroffen haben. Wir wollten »Stimmen aus einem gespaltenen Land« wiedergeben.

      Es sind Porträts, die das vielfältige und einzigartige Gesellschaftsmosaik der USA widerspiegeln, das wir in den vielen Jahren unserer US-Aufenthalte kennengelernt, erlebt und lieben gelernt haben. Charaktere und Lebensgeschichten, die vom unbeugsamen Pioniergeist, Tatendrang und Individualismus zeugen, die dieses Land groß gemacht haben. Menschen, deren tägliche Herausforderungen, Hoffnungen und Ängste die gesellschaftliche Wirklichkeit dieses komplexen Landes abbilden.

      Religion, Rassismus, Revolutionssehnsüchte, Waffenbesitz, UFOs, Glamour, Drogensucht, Einwandererträume und Klimawandel – das sind nur einige der Themen, die wir mit der Auswahl unserer Buch-Charaktere mit Leben erfüllen wollen. Wir wollen ihre Geschichten erzählen, um sie dem Leser näherzubringen. Wir hoffen, damit zum besseren Verständnis der USA beizutragen, abseits der Schlagzeilen des 24-Stunden-Nachrichtenzyklus, denen wir als Journalisten sonst im Alltag hinterherhechten.

      Zugleich haben wir Menschen porträtiert, deren Leben die tiefen Missstände und sozialen Verwerfungen zum Ausdruck bringen, die sich in den letzten Jahrzehnten weiter verschärft haben – oder, wie David es noch drastischer ausdrücken würde: die USA an den Rand des Abgrunds gedrängt haben. Die extreme Polarisierung, das Misstrauen zwischen Jung und Alt, Stadt und Land, Arm und Reich, zwischen links, rechts und dem Zentrum des politischen Spektrums – all das spiegelt sich in den Kapiteln unseres Buches wider. Ebenso die zunehmend abgeschotteten Wahrnehmungsblasen, in denen sich die unterschiedlichen Gesellschaftsteile bewegen. Unversöhnlich prallen diese Parallelwelten derzeit aufeinander. Ein Hauch von 1968 liegt in der Luft, vielleicht auch 1972. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

       Hannelore Veit und David Kriegleder

       Washington, im Juni 2020

       Einleitung

       Transatlantische Gedanken, Teil 1

       David Kriegleder

      Kapuzenpullover am Haupt, Latexhandschuhe an den Fingern, N95-Atemschutzmaske im Gesicht. So sitze ich regungslos auf meinem Fensterplatz, etwa 12 000 Meter über dem Meeresspiegel. Aus meinen Kopfhörern tönt der Bass von elektronischer Musik, der sich mit dem dumpfen Dröhnen der Boeing-787-Passagiermaschine vermischt. Unter uns zieht glitzernd der Atlantische Ozean vorbei. So weit wie dieser Tage kam er mir noch nie vor. Und die Reise aus Europa in die Neue Welt selten so lang.

      Ich bin auf dem Weg zurück in die USA, jenes Land, das ich seit zwei Jahren mein Zuhause nennen darf. Ein Land, in dem ich schon Teile meiner Kindheit, Jugend- und Studentenjahre verbracht habe und das mich trotz aller Ambivalenz, die ich empfinde, immer wieder zu sich ruft. Auch inmitten der Corona-Krise. Unser Flieger ist in diesen Zeiten der geschlossenen Grenzen nur zu einem Drittel gefüllt – Social Distancing fällt da nicht schwer. Mit an Bord: US-amerikanische Rückkehrer, Diplomaten, gereiztes Flugpersonal in Schutzkleidung.

      Dass ich während der Pandemie meine Familie in Österreich besuchen und danach in die USA zurückkehren kann, verdanke ich der österreichischen Botschaft in Washington. Sie hat mit viel Geschick eine spezielle Wiedereinreise-Genehmigung für Journalisten organisiert, eine Ausnahmeregelung für den vom Weißen Haus verhängten Corona-Reisebann für Schengen-Bürger. Viele andere internationale Korrespondenten haben dieses Glück nicht gehabt.

      Die USA waren für mich stets so etwas wie eine zweite Heimat – ein Ort, den ich mit vielen positiven Erlebnissen, Erinnerungen und Menschen verbinde. Aber so richtig willkommen fühle ich mich hier in letzter Zeit nicht mehr. Während ich an Bord meines Fluges das Zollformular ausfülle, stelle ich mich im Kopf bereits auf die langwierige und peinliche Befragung durch die US-Einwanderungsbehörden ein, die schon zum Fixritual bei meinen Einreisen geworden ist. Journalisten, einheimische und ausländische, werden im Land der Pressefreiheit immer öfter als Störenfriede behandelt. »Gibt es in Österreich nicht genug zu berichten, dass Sie hierherkommen müssen?«, hat mich ein US-Grenzbeamter schon einmal forsch gefragt.

      Die offene, herzliche und unbekümmerte Landesmentalität der USA, die ich so schätze, ist in den vergangenen 20 Jahren spürbar einer tiefen Verunsicherung und Verbitterung gewichen, das merke ich auch in Gesprächen mit amerikanischen Freunden und den Porträtierten in diesem Buch. Was sagt man in Europa zu unserem Chaos? Wieso funktionieren gewisse Dinge bei euch und bei uns nicht? Ist in Österreich wirklich jeder krankenversichert? Es sind Fragen, die von der tiefen Identitätskrise zeugen, in der dieses Land steckt – der unbeugsame Fortschrittsglaube seiner Menschen hat schweren Schaden erlitten. Das gesellschaftliche Fundament der USA erlebe ich zunehmend als ausgehöhlt, wie eine leere Simulation seiner selbst. Es ist ein Land, in dem mittlerweile weder der Staat noch der Markt wirklich funktionieren. Und die Amerikaner scheinen es zu spüren: »In Bezug auf unsere politischen und sozialen Institutionen kann ich mir nicht verkneifen, zu denken: Lasst sie doch alle brennen« – dieser Aussage schließen sich laut der viel beachteten politikwissenschaftlichen Studie »A Need for Chaos« (Petersen, Osmundsen & Arceneaux, 2018) ganze 40 Prozent der befragten US-Bürger an. Laut Gallup-Umfrage haben 59 Prozent der Amerikaner kein Vertrauen mehr in ihre Demokratie und die Fairness ihrer Wahlen. Über 60 Prozent sind der Meinung, das Land sei auf dem falschen Weg.

      Die Corona-Krise hat die sozialen Missstände und internen Spannungen noch einmal verstärkt und die gesellschaftlichen Vorerkrankungen des Patienten USA gnadenlos offengelegt. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA mit einer Pandemie ringen, nicht das erste Mal, dass das Land eine schwere Wirtschaftskrise erlebt. Und nicht das erste Mal, dass der US-Kongress versucht hat, einen US-Präsidenten des Amtes zu entheben. Doch noch nie fand all das im selben Jahr statt, noch dazu in einem Wahljahr. Politische Beobachter in den USA sprechen daher immer öfter von ernsthaften Anzeichen und Symptomen eines gescheiterten Staates. Das amerikanische Selbstverständnis ist jedenfalls infrage gestellt und mit ihm die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etablierte internationale Staatenordnung. Die Vereinigten Staaten sind mit sich selbst beschäftigt und ziehen sich international zurück. Zwischen Europa und Washington sind tiefe Gräben entstanden, nicht erst seit der nationalistischen »America First«-Politik Donald Trumps. Man ist sich fremd geworden diesseits und jenseits des Atlantiks.

      Es sind Entwicklungen, die mich nachdenklich stimmen. Als unsere Boeing-Maschine zum Landeanflug ansetzt, überkommt mich eine tiefe Melancholie. Wir gleiten am Potomac-Fluss entlang, Washingtons Innenstadt zieht am Fenster vorbei: die Gedenkstätten historischer Präsidenten, steinerne Mahnmale aus besseren Zeiten; das Weiße Haus, das dieser Tage mehr denn je einer verbarrikadierten Festung gleicht; der überfüllte Soldatenfriedhof Arlington, Zeugnis eines wankenden Imperiums. Ich habe Transatlantikflüge in die USA lange als magisch empfunden – als Reisen, die über die Überwindung


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