Verwildert. George Monbiot
zu seiner eigenen Verblüffung plötzlich zu den etwa 2000 Leuten, die jährlich in der freien Natur Großbritanniens eine große Katze sehen.
Als Michael das inzwischen als »Panther von Pembrokeshire« bekannte Tier zu Gesicht bekam, hatte es laut Wales on Sunday bereits zehn bestätigte Sichtungen gegeben.2 Zu denen, die behaupten, die Kreatur gesehen zu haben, gehören Landwirte oder Landarbeiter, die mit der weniger exotischen Tierwelt der Gegend vertraut sind. Auch der Bauer und – unabhängig davon – seine Frau, deren Land an die Straße grenzte, auf der wir standen. Alle hatten das Tier übereinstimmend so beschrieben wie Michael, groß, pechschwarz, glänzend, mit einem langen Schwanz, zweifellos eine Katze. Eine Person behauptete, es mit einem Lamm im Maul gesehen zu haben. Eine weitere berichtete, dass es »eine Hecke übersprang wie ein Rennpferd«.3 Es wurde verantwortlich gemacht für die grausigen Gerippe von Schafen und Kälbern, die man in abgelegenen Winkeln der bäuerlichen Besitzungen gefunden hatte. Aber erst als der ehemalige Polizist seinen früheren und aktuellen Kollegen von dem Biest berichtete, begann man, es ernst zu nehmen. Die County Times beschrieb die Sichtungen nun als »100 Prozent authentisch«.4
Drei Wochen später, als fünf Menschen es bei Rudbaxton gesehen hatten, schickte die Polizei eine bewaffnete Einsatztruppe auf den Weg. Ein Sprecher der Polizei in Dyfed-Powys meinte, dass man den Menschen geraten hätte, auf Abstand zu bleiben, sollten sie den »Pembrokeshire Panther« zu Gesicht bekommen, und bei der Gemeindeverwaltung Meldung zu machen. »Wir müssen die Sache ernst nehmen, auch wenn es streng genommen keine Polizeiangelegenheit ist, solange niemand in unmittelbarer Gefahr schwebt.« Er bemerkte noch, dass die walisische Regierung als Reaktion auf Berichte wie den von Michael eine Großkatzen-Sichtungs-Einheit aufgestellt habe. Das prüfte ich nach: So unwahrscheinlich die Kreatur auch sein mag, die Einheit existiert tatsächlich.
Ich kam zu der Überzeugung, dass Michael ein ehrlicher, verlässlicher und unaufgeregter Mensch ist, der kein Interesse an öffentlicher Aufmerksamkeit hat – sie schien ihm eher unangenehm zu sein. Ich bin mir sicher, dass er wie die anderen Leute auch, die behaupteten, das Biest gesichtet zu haben, getreulich beschrieben hat, was er gesehen hat. Ich bin mir aber genauso sicher, dass es den »Panther von Pembrokeshire« nicht gibt.
In Großbritannien existiert heute wohl kaum eine anständige Gemeinde, die sich nicht einer solchen Kreatur rühmte – oder von ihr besessen ist. Selbst die Londoner Vorstädte behaupten, von großen Katzen heimgesucht zu werden. Es gibt das Biest von Barnet, das Biest von Cricklewood, einen Kristallpalast-Puma und einen Sydenham Panther. Im Laufe der Geschichte hat es immer wieder Berichte über mysteriöse britische Katzen gegeben. Die früheste schriftlich niedergelegte Kunde – Cath Palug (Palugs Katze oder Kratzekatze) – findet sich im Black Book of Carmarthen, das, wie der Hase (bzw. der Panther) eben so läuft, genau 50 Kilometer von dem Ort entfernt niedergeschrieben wurde, an dem Michael seine Kreatur gesehen hat. Das Fragment am Anfang dieses Kapitels ist alles, was von dem Bericht auf uns gekommen ist: »Sein Schild war bereit / Gegen die Katze Palug / Als die Leute ihn willkommen hießen. / Wer erstach die Katze Palug? / Neun mal zwanzig Helden / Fielen ihr zum Fraß / Noch vor der Morgendämmerung.« Das gleiche Tier taucht allerdings auch in den Welsh Triads auf, worin seine Attribute eine noch schwierigere Herausforderung für die Biologie darstellen: Es wurde zusammen mit einem Wolf und einem Adler von einer riesigen Sau geboren.
Während der letzten Jahre haben die Sichtungen stark zugenommen. In ihrem wunderbaren Buch Mystery Big Cats bemerkt Merrily Harpur, dass die »Katzenhysterie«, wie sie sie nennt, zwischen 2000 und 4000 mal im Jahr vorkommt.5 Auf meinen Reisen durch die Provinz habe ich festgestellt, dass auch viele Menschen, die die Katzen gar nicht gesehen haben, fest von ihrer Existenz überzeugt sind. Die Biester wurden selbst von Leuten gesichtet, die schon von Berufs wegen besser als etwa Michael oder die Landwirte Pembrokeshires einordnen können müssten, was sie sehen: Wildhüter, Parkranger, Wildtierexperten, ein Tierpfleger im Ruhestand. Merrily Harpur merkt an, dass etwa drei Viertel aller gesichteten Katzen schwarz sind, und in der Regel werden sie als glänzend und muskulös beschrieben. Interessant ist auch ihre Beobachtung, dass als wahrscheinlichster Kandidat ein Leopard mit Melanismus infrage kommt (der Leopard ist die Art, in der die schwarze Variante zwar selten, aber am häufigsten vorkommt), dass sie aber auf keinen einzigen Bericht von einem in freier Wildbahn beobachteten gewöhnlichen gefleckten Leoparden gestoßen ist.
Obwohl die Sichtungen Übereinstimmungen zeigen und die Zeugen verlässlich sind, ist die Beweislage für eine tatsächlich existierende Population von Großkatzen im Vereinigten Königreich um nichts gesicherter als die für das Monster von Loch Ness. Anders gesagt, trotz der abertausend Tage, die Kryptozoologen damit verbracht haben, dem Biest auf die Spur zu kommen, trotz der versammelten Bemühungen der Polizei, der Royal Marines und von der Regierung bestallter Wissenschaftler existiert es nicht.
Obgleich manche Großkatzenarten zu den scheuesten und umsichtigsten Wildtieren gehören, ist es für Experten leicht, Belege zu finden, dass es sie gibt. Es sind Tiere mit regelmäßigen Gewohnheiten. Sie haben ihre Territorien, Unterschlüpfe, in denen sie ihren Nachwuchs aufziehen, Stellen, an denen sie Duftmarken, und Bäume, an denen sie Kratzspuren anbringen. Wo sie sich aufhalten, hinterlassen sie Fährten, Losung und Haare, wobei Erstere ohne Weiteres zu erkennen sind und die anderen durch DNA-Tests erhärtet werden können.
Sogar Tiere, die nur selten beobachtet werden, hinterlassen so viele Spuren, dass sie eingehend erforscht werden können. Einmal verbrachte ich ein paar Tage mit Biologen in einem Waldschutzgebiet im Amazonas. Die ganze Nacht über hörten wir Jaguargebrüll; aber der Teamleiter meinte, auch wenn davon auszugehen sei, dass die Tiere uns beobachten, würden wir sie nie zu Gesicht bekommen. Eines Tages ging ich zu einem Bach ein paar Schritte vom Lager entfernt, um zu schwimmen. Ich war etwa zwanzig Minuten im Wasser und ging dann den sandigen Pfad zurück. In meinen Fußabdrücken befanden sich die Trittsiegel eines Jaguars.
Der Wildlife Photographer of the Year-Wettbewerb wurde 2008 von einem Fotografen gewonnen, der eines der am schwersten auffindbaren Tiere der Welt – den Schneeleoparden – an einem der unzugänglichsten Orte der Welt, in der Himalayaregion Ladakh, auf über 3000 Metern Höhe aufgenommen hat. Dem Fotografen ging es nicht nur darum, die Existenz des Leoparden zu dokumentieren. Nachdem Steve Winter dreizehn Monate lang experimentiert hatte und Hunderte nur unbefriedigende Bilder seines Zielobjekts geschossen hatte, gelang ihm durch eine ausgeklügelte Aufstellung von Kamerafallen und Lampen schließlich ein perfekt komponiertes Porträt. »Ich wusste, das Tier würde auftauchen«, berichtete er. Seine Ausrüstung wartete nur darauf, dass »der Schauspieler die Bühne betritt und den Sensor auslöst«.6
Doch trotz überall in Großbritannien an geeigneten Orten aufgestellten Kamerafallen, trotz aller Bemühungen von hunderten Enthusiasten, die sich ausgerüstet mit Teleobjektiven und Wärmebildkameras auf die Pirsch begaben, ist in diesem Land noch kein einziges unzweifelhaftes Bild eines Panthers geschossen worden. Die Fotografien und Filmfetzen, die ich gesehen habe – das Beste, was die Verfechter der geheimnisvollen Katzen zuwege bringen können –, zeigen etwa zur Hälfte eindeutig Hauskatzen. Bei etwa einem Drittel handelt es sich um Pappfiguren, Kuscheltiere, unbeholfene Photoshop-Bearbeitung oder – wie die umgebende Vegetation verrät – um Bilder, die in den Tropen geschossen wurden. Die Übrigen sind aus so großer Entfernung oder so undeutlich aufgenommen, dass sie nahezu alles wiedergeben könnten: Hunde, Hirsche, Füchse, Müllsäcke, auf allen vieren gehende Yetis. Mit am verblüffendsten an der ganzen Geschichte ist, dass von denen, die sich aufgemacht haben, eine Großkatze in Britannien aufzuspüren, eigentlich niemand eine zu Gesicht bekommen hat. Fast ausnahmslos geschahen die Sichtungen unerwartet. In den meisten Fällen erschienen die Katzen Menschen, die sich noch nie mit ihnen beschäftigt hatten oder nicht an ihre Existenz glaubten. Die Pasteur’sche Maxime, wonach das Glück den auswählt, der darauf vorbereitet ist, scheint hier nicht zuzutreffen.
Auch die unermüdlichen Bestrebungen, diese Tiere zu fangen oder zur Strecke zu bringen, haben nichts Überzeugenderes ergeben. Wie Harpur anmerkt, sind »mehr Anstrengungen und mehr Ausgaben für die Jagd nach anomal großen Katzen aufgebracht worden, als für die imperiale Tigerjagd«. Und das Ganze hat kaum mehr erbracht als ein paar glücklose Geschöpfe, die aus dem Zoo, dem Zirkus oder aus Privathaltungen entkommen sind und die in