Verwildert. George Monbiot
die Überreste eines Schwanzes.« Die Zeitung hatte mit einem Polizisten vor Ort gesprochen, der die kryptische Bemerkung fallen ließ: »Wie es aussieht, könnte es fast definitiv ein Biest von Exmoor sein.« Erst am Ende der Seite enthüllte der Bericht, dass es sich um eine verwesende Robbe handelte. Zweifellos haben diese fesselnden Geschichten das Biest-Fieber angeheizt, aber viele, die die Großkatzen in Britannien gesehen haben wollen, behaupten auch, vor ihrer Begegnung nie von den Tieren gehört zu haben. Es steht außer Frage, dass, abgesehen von ein paar Witzbolden, die meisten im besten Glauben von ihren Sichtungen berichteten. In vielen Fällen wurde ein Tier von mehreren Leuten gleichzeitig beobachtet, die alle das Gleiche aussagen. Was also geht da vor sich? Warum sind in den vergangenen drei Jahrzehnten die Meldungen über Großkatzen in Großbritannien von jährlich ein paar Dutzenden auf Tausende angestiegen?
In der wissenschaftlichen Literatur findet sich keine Erörterung dieses Phänomens: Ich bin auf keinen einzigen Zeitschriftenartikel gestoßen, der sich mit den Großkatzen-Sichtungen befasst hätte. Kein angefragter Psychologe war in der Lage, mir jemanden zu nennen, der das Phänomen untersuchte.
Vielleicht mag die Tatsache, dass die meisten der gemeldeten Katzen schwarz sind, erklären, was hier geschieht. Schwarz ist die einzige Farbe, die alle Großkatzenarten gemeinhin mit der Hauskatze teilen. Erblickt man etwas, das man für einen fuchsroten Leoparden oder einen gescheckten Löwen halten mag, wird man höchstwahrscheinlich seine Wahrnehmung hinterfragen, bevor man das Gesehene als solches hinnimmt. Man wird wahrscheinlich auch zurückhaltender sein, wenn man anderen von seinem Erlebnis berichtet. Das Missverhältnis zwischen Farbgebung und Größe steht dem Bestätigungsprozess im Wege, mit dem das Gedächtnis das Gesehene verstärkt und womöglich übertreibt. Dieses Hindernis wird weniger wahrscheinlich auftreten, wenn die Katze schwarz ist, was immerhin die Möglichkeit bietet, dass es sich um einen Panther handelt. Die Hauskatzen-Hypothese dürfte zudem erklären, warum offenbar kein Mensch einen Leoparden mit Leopardenfell gesehen hat.
Die Größe eines Tiers zu beurteilen, ist schwierig. In der Zeitschrift The Skeptic weist David Hambling darauf hin, dass die Leute häufig die Tiere, die sie sehen, für weit größer halten, als sie tatsächlich sind.13 Als zum Beispiel Scharfschützen der Polizei einen entflohenen Karakal im County Tyrone in die Enge getrieben hatten, erschossen sie ihn in dem Glauben, es sei ein Löwe. Löwen wiegen zwanzig Mal mehr als Karakale. Die Kellas-Katze Schottlands ist ein schwarzes Biest, das wirklich existiert. Sie ist eine Kreuzung der Schottischen Wildkatze mit einer verwilderten Hauskatze. Oft wurde berichtet, sie habe die Größe eines Leoparden. Tatsächlich maß das größte je erlegte oder gefangene Exemplar 110 cm vom Kopf bis zum Schwanz, was immer noch kleiner ist als die größten Wildkatzen. Besonders schwierig dürfte es sein, die Größe eines schwarzgefärbten Tiers zu beurteilen.
Der Psychologe Richard Wiseman erklärt in seinem Buch Paranormalität:
Viele Menschen denken, dass menschliche Beobachtung und Erinnerung wie ein Videorekorder oder eine Filmkamera funktionieren. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein […]. Zu jedem Zeitpunkt haben Ihre Augen und Ihr Gehirn nur die Verarbeitungskapazität, um einen sehr kleinen Teil Ihrer Umgebung anzusehen […], um sicherzustellen, dass wertvolle Zeit und Energie nicht für bedeutungslose Details verschwendet werden, identifiziert Ihr Gehirn rasch dasjenige, von dem es meint, dass es sich um die bedeutsamsten Aspekte Ihrer Umgebung handelt, die es als wichtig erachtet, und konzentriert nahezu seine gesamte Aufmerksamkeit auf diese Bestandteile.14
Das Gehirn, so Wiseman, scannt die Szenerie, wie eine Taschenlampe ein dunkles Zimmer ableuchtet. Die Lücken füllt es aus und konstruiert aus den Teilinformationen ein vermeintlich komplettes Bild.
Dieses Bild kann sich in unser Gedächtnis einnisten und wir behandeln es, als sei es so konkret und eindeutig wie eine Fotografie in einem Album. Wenn wir uns auf eine Katze konzentrieren und ihre Umgebung außer Acht lassen, kann es vorkommen, dass durch den Auswahlprozess das Biest vergrößert und die Szenerie geschrumpft wird. Ich frage mich zudem, ob es in unserem Gehirn so etwas wie eine Schablone in Form einer Großkatze gibt. Da für unsere Vorfahren Großkatzen einst die gefährlichsten Raubtiere waren,* dürfte es ein starkes evolutionäres Interesse geben, sie zu erkennen, bevor das Bewusstsein das Bild verarbeiten und interpretieren kann. Es könnte sein, dass alles, was vage zu dieser Schablone passt, den Großkatzenalarm auslöst: Es schadet uns wenig, Katzen zu sehen, die nicht existieren, aber diejenigen nicht zu sehen, die existieren, umso mehr.
All dies erklärt jedoch nicht, warum Sichtungen von Großkatzen in den letzten Jahren häufiger geworden sind. Auch wenn das Phänomen anscheinend besonders stark in Großbritannien auftritt, ist es nicht nur auf die Insel beschränkt. Es sind auch zahlreiche Sichtungen in anderen Teilen Europas, in Australien und in Gebieten Amerikas gemacht worden, in denen es schon lange keine Pumas oder Jaguare mehr gibt. Seit Jahrhunderten leben verwilderte Hauskatzen auf dem Land, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, und mir sind auch keine Anzeichen bekannt, dass heute ein größerer Anteil als früher schwarz sein sollte. Es könnte sein, dass ihre Population mit dem Nachlassen der Jagdtätigkeit angewachsen ist, aber das müsste mit dem Umstand aufgerechnet werden, dass wir weniger Zeit im Freien verbringen. So ist es eher unwahrscheinlich, dass die um sich greifende Katatonie auf eine zunehmende Begegnung mit Miezekatzen zurückgeht.
Jede Gesellschaft ist von bestimmten paranormalen Phänomenen affiziert, und diese Phänomene reflektieren offenbar unsere Sehnsüchte. Sehnsüchte, die uns nicht unbedingt völlig bewusst sind. Im viktorianischen England glaubten zahlreiche Menschen, dass ihnen die Toten erscheinen und mit ihnen kommunizieren würden. Sie sahen Gespenster, hörten Stimmen und wähnten, sie könnten durch Séancen und Tischerücken mit den Verblichenen Botschaften austauschen. Die Menschen dieser Epoche waren vom Tod besessen. Man muss nur über einen alten Friedhof spazieren und die tragischen Geschichten jener Zeit lesen: Kinder und Ehepartner wurden bisweilen innerhalb weniger Tage von den Epidemien, die seinerzeit in den überfüllten Städten grassierten, dahingerafft. Damals befand sich das Land in einem Zustand nie endender Trauer. Die Vorstellung, dass die Toten in das diesseitige Leben zurückkehren könnten, muss ebenso tröstlich gewesen sein wie der Glaube, sich im Jenseits wieder mit ihnen vereint zu finden. Heute sind Nachrichten über Kontakt mit den Toten nur noch selten.
Als der Wettlauf ins All zwischen den USA und der Sowjetunion auf der ganzen Welt die Fantasie der Menschen beschäftigte, nahmen die Sichtungen von UFOs und Aliens, die zuvor so gut wie unbekannt waren, um ein Vielfaches zu. Es war eine Zeit, in der wir große Hoffnungen in das Veränderungspotenzial der Technik setzten. Damals stellten sich viele Menschen vor, auf anderen Planeten zu leben und durch Galaxien und die Zeit zu reisen. Es war auch die Zeit, in der die Welt kleiner wurde und uns bewusst wurde, dass das Zeitalter der Entdeckungen auf der Erde und der Begegnung mit noch unbekannten Menschengruppen zu Ende ging; dass der Planet Erde womöglich ein weniger aufregender Ort wurde und sicherer war als bislang. Aliens und ihre Fertigkeiten füllten die Lücke, elektrisierten uns mit der Möglichkeit, dass Begegnungen mit unbekannten Kulturen weiterhin möglich seien, und stellten zugleich das Versprechen dar, dass auch wir jene Beherrschung von Technik und Physik erreichen würden, die wir den Außerirdischen zuschrieben. Heute hören wir nicht mehr so viel über UFOs – vielleicht weil unser Glaube an die erlösende Kraft der Technik nachgelassen hat. Könnte es also sein, dass herbeifantasierte Großkatzen einem unerfüllten Bedürfnis entspringen? Jetzt, da unser Leben zahmer und vorhersehbarer geworden ist, da Fülle und Vielfalt der Natur zurückgehen, da unsere körperlichen Herausforderungen so gering geworden sind, dass die größte Kraft- und Geschicklichkeitsprobe, mit der wir es heute zu tun bekommen, das Öffnen einer schlecht entworfenen Nusspackung ist, könnte es da nicht sein, dass uns diese illusorischen Kreaturen etwas liefern, das uns mangelt?
Vielleicht verleihen die Biester, die so viele Menschen heute in den dunklen Ecken des Landes auf der Lauer wähnen, unserem Leben einen Kitzel, den wir uns sonst nur künstlich verschaffen können. Vielleicht wecken sie alte genetische Erinnerungen an Konflikte und schieres Überleben, Erinnerungen, die Begegnungen mit großen Raubkatzen beinhalten dürften – womöglich die heikelsten Zusammenstöße, denen unsere Ahnen ausgesetzt waren. Sie verweisen