Wozu ein Himmel sonst?. Norman G. Dyhrenfurth
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Göttin-Mutter des Landes
Die Sonne sinkt. Im Schatten der Berge liegt das Kloster Tengpoche, die „heilige Wiese“. Dumpf dröhnen die Bässe der Hörner, dann Paukenschlag und Trompeten. Eine monotone, fast unheimliche Musik, die von Talwand und Eisgrat widerhallt. Gestalten sitzen im Dämmerlicht, braune, wetterharte Männer in rotbraunen Kutten: buddhistische Lamas und Mönche. Die Instrumente verstummen. Kaum hörbar das Surren der Gebetsmühlen, der sanfte Klang silberner Glocken. Lippen bewegen sich in stiller Andacht. Himmelwärts richten sich die Augen, zum allerhöchsten Gipfel, der, von den Strahlen der Abendsonne umflutet, in den stahlblauen Äther ragt.
Es ist ein heiliger, überirdischer Berg, den sie verehren, von allen Geheimnissen des Unbekannten und Unzugänglichen umgeben. Symbol der Ewigkeit, Thron der Götter – aber auch Ort des Grauens und der Strafe, umringt von Mysterien und Angstvorstellungen alt wie die Nacht. Wehe dem Sterblichen, der es wagt, in diese menschenfeindliche Welt einzudringen! Wehe dem, der das von Dämonen bewachte Heiligtum der Berggöttin entweiht!
„Om mani padme hum“, murmeln die frommen Männer von Tengpoche, den ruhigen Blick zum höchsten Punkt auf Erden gerichtet: Chomolongma – Göttin-Mutter des Landes.
Immer höher steigen die Schatten. Einer nach dem anderen versinken die Giganten im grauen Licht der Dämmerung. Dann leuchtet nur noch der allerhöchste Gipfel in den letzten Strahlen der Sonne.
Dort, auf 8250 Meter über dem Meeresspiegel, steht das Sturmlager der Schweizer am 27. Mai 1952: ein winziges Zelt am Südostgrat, an der Grenze zwischen Nepal und Tibet. Raymond Lambert, Bergführer aus Genf, und Sherpa-Obmann Tensing Norgay aus Darjeeling sind die einzigen Insassen. Ihre Kameraden sind zum Südsattel abgestiegen, hier oben ist kein Platz für sie. Ohne Luftmatratzen, ohne Schlafsäcke, ja sogar ohne Kocher bedeutet Lager 7 nicht viel mehr als ein Notbiwak. Trotzdem hat Tensing vorgeschlagen, eine Seilschaft solle hier bleiben und am nächsten Tage zum Gipfel vorstoßen.
Die Sonne verschwindet hinter dem Everest; es wird bitterkalt, die Außentemperatur sinkt auf minus 30 Grad Celsius. Von Westen her ziehen dunkle Wolken auf, bald wird der gefürchtete Monsun seinen Einzug halten. Schlotternd vor Kälte sitzen die Gefährten auf dem bloßen Zeltboden. Es gibt fast nichts zu essen, ein bisschen Käse, ein Würstchen, das ist alles. Über einer Kerze wird etwas Schnee geschmolzen. Bei quälendem Durst verstreichen die Stunden nur langsam. An Schlaf ist nicht zu denken. Endlich beginnt es zu dämmern, die beiden einsamen Kämpfer machen sich fertig. Es ist der 28. Mai.
Der Aufstieg über den Südostgrat ist hier, in seinem mittleren Abschnitt, technisch leicht, aber für jeden Schritt braucht es drei Atemzüge. Beim Spuren lösen sich Lambert und Tensing häufig ab und bleiben immer wieder stehen, um sich auszuruhen. Das Wetter verschlechtert sich zusehends, sie kommen nur schrecklich langsam vorwärts. Die ungenügend erprobten Sauerstoffgeräte liefern viel zu wenig von dem lebensspendenden Gas. Die Beine werden schwer wie Blei. Wollen und Denken sind wie gelähmt. Nebelschwaden ziehen um die Grate, es beginnt zu schneien. Nun sind sie bei 8500 Metern, rund 260 Meter unter dem Südgipfel, 350 Meter unter dem höchsten Punkt der Erde. In der letzten Stunde haben sie nur noch 40 Höhenmeter gewonnen. Das hieße also noch neun Stunden bis zum Hauptgipfel, und es ist bereits 11:30 Uhr. Der Wind wird immer stärker, Schnee peitscht das Gesicht. Es ist den Männern klar, dass sie niemals mit dem Leben davonkommen werden, wenn ein wirklicher Sturm losbricht. Sie haben das Menschenmögliche geleistet, aber nun ist es höchste Zeit umzukehren. Das einsame Zelt auf 8250 Meter wird zurückgelassen, die beiden steigen zum Südsattel ab. Sie sind gänzlich „fertig“. Über eine kleine Gegensteigung in der Passmulde kommen sie nicht mehr hinweg. Ihre Kameraden Aubert und Flory müssen sie in die Zelte vom Südsattel-Lager hereinholen. Die beiden waren wirklich an der äußersten Grenze des Möglichen gewesen. Wären Lambert und Tensing noch ein kleines Stück weitergegangen – sie wären nicht mehr lebend heruntergekommen …
Mingma Dorje aus Namche Bazar
Der Kampf um den Everest lief auf Hochtouren. Es war Ende Oktober 1952, und fünf Lager waren bereits errichtet: Lager 1 (Standlager) am Fuße des Khumbu-Eisfalls. Lager 2 auf halber Höhe, Lager 3 auf etwa 6100 Meter am Eingang zum Westbecken, Lager 4 (vorgeschobenes Standlager) auf 6550 Meter fast am Fuße der Everest-Südwestwand und Lager 5 auf etwa 6800 Meter unterhalb der Eiswand, die den direkten Aufstieg zum Südsattel ermöglicht. Unsere Erfolgsaussichten wurden durch außergewöhnliche Kälte, heftige Stürme und immer kürzer werdende Tage beeinträchtigt. Darunter litt nicht nur die körperliche und seelische Verfassung der Mannschaft, auch unsere Umgebung war von diesen Umständen gezeichnet: In großen Höhen waren sämtliche Steilhänge beinahe schneefrei, überall schillerte blankgefegtes Eis blaugrün und abweisend. Das bedeutete eine Unmenge von Stufen, Eishaken und Fixseilen, um den Lastentransport zum Südsattel sicherzustellen. Lager 6 sollte dort auf fast 8000 Meter errichtet werden, und dann noch ein letztes Sturmlager, so hoch wie möglich.
Am 29. Oktober waren Jean Buzio und fünf Sherpas von früh bis spät damit beschäftigt, in harter Arbeit Haken zu schlagen und Seile zu spannen. Mit Feldstecher und Fernrohr verfolgten wir vom Lager 4 aus ihren Fortschritt. Sechs winzige Punkte, wie Ameisen in dieser lebensfeindlichen, fast erdrückenden Bergwelt. Am nächsten Nachmittag kehrten Jean und ein Sherpa zurück, die anderen blieben im Lager 5, wo der ständige Wind die Nächte noch unerfreulicher gestaltete als hier im vorgeschobenen Standlager. Jean sah alt und erschöpft aus. Die psychische und physische Belastung der letzten Tage und Wochen machte sich bemerkbar. Er war selig, die Sicherheit und den Komfort unseres Lagers erreicht zu haben, während wir, die wir ihn mit heißem Tee, Rum und Keksen begrüßten, ihm unsere Anerkennung für die geleistete Tagesarbeit aussprachen.
Tatsächlich war dies das erste Mal seit der Anreise, dass die ganze Mannschaft – mit Ausnahme von Gustave Gross im Lager 5 – beisammen war. Einige waren bisher in den unteren Lagern geblieben, andere waren am Vorstoß zum Südsattel beteiligt, und ich hatte in Neu-Delhi drei Wochen auf die nepalische Bewilligung warten müssen, bis ich endlich der Expedition auf kürzestem Wege von Süden her nacheilen konnte. Der heutige Abend war also für eine kleine Feier wie geschaffen!
Drei Flaschen Cognac hatten wir für die Gesamtdauer der Expedition mit dabei, aber jetzt waren wir darauf erpicht, wenigstens einer den Garaus zu machen. In dieser Höhe machte sich der Alkohol sehr bald bemerkbar. Wir fühlten uns herrlich entspannt und zugleich beschwingt. Altvertraute Lieder in Französisch, Englisch und Schweizerdeutsch füllten das „Tal des Schweigens“. Wir genossen unser Gala-Essen, bestehend aus Pemmikan, Knäckebrot mit Thunfisch, Käse und Nescafé. Leider war die alkoholische Wärme nur von kurzer Dauer, und die grimmige Kälte drang sehr bald durch Zeltwand und Daunenanzug. Also zurück in unsere kleinen Zelte, in die doppelten Schlafsäcke und die allgemein beliebte „Horizontale“. Im bleichen Mondlicht wirkten die umliegenden Bergriesen unsagbar fern und geheimnisvoll, wie aus einem Roman von Jules Verne. In mein Zelt zurückgekehrt, wollte ich zunächst Eintragungen ins Tagebuch machen, aber überwältigende Müdigkeit, Sauerstoffmangel und eiskalte Hände setzten meinem Vorhaben sehr bald ein Ende.
Der nächste Tag war in erster Linie der Privatkorrespondenz gewidmet. Am Nachmittag sollten uns die Postläufer verlassen. Alle zwölf Tage wurden zwei besonders schnelle Läufer nach Jaynagar an der indischen Grenze entsandt. Dort wurden sie durch Assistenten von Pater Niesen, einem amerikanischen Jesuiten und Leiter der St. Xavier’s School in Patna – einer der hervorragendsten Männer, die ich je kennengelernt habe –, empfangen. Pater Niesen nahm sich der äußerst komplexen Probleme unserer ein- und ausgehenden Post mit Herz und Seele an. Dabei bewies er viel List und Fingerspitzengefühl, denn wir hatten mit der „London Times“ einen Exklusivvertrag und deren liebe Konkurrenz trachtete mit allen Mitteln danach, unsere Postläufer abzufangen und