Wozu ein Himmel sonst?. Norman G. Dyhrenfurth
Standlager, Jaynagar und zurück vier Wochen.
Expeditionsleiter Gabriel Chevalley und Arthur Spöhel verließen uns nach Abgang der Post, um die Nacht im Lager 5 zu verbringen. Am folgenden Tag waren sie an der Reihe, die Arbeit in der Südsattelflanke fortzusetzen.
Nachmittagstee, und bald darauf Abendessen. Bei der herrschenden Kälte war es keine reine Freude, sich allzu lange im Messezelt aufzuhalten. Raymond Lambert, unser bergsteigerischer Leiter, und Sirdar Tensing Norgay zogen sich bald zurück, während Jean Buzio, Gustave Gross, Ernst Reiss und ich im flackernden Licht der winzigen Kerze fröstelnd herumhockten und bis acht Uhr über Berge, Philosophie, Religion und Frauen (allerdings nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) diskutierten. Auf 6550 Metern Höhe und derartig spät im Jahr kam es uns wie zwei Uhr morgens vor!
Die Strapazen der vergangenen Wochen hatten uns arg zugesetzt. Auch unsere Nerven waren längst nicht mehr die besten. Als wir ins Freie traten, blickten die Berge auf uns herab in kalter, mörderischer Stille. Jenseits von Eisbruch und Standlager schien uns die dunkle Pyramide des Pumori von der Außenwelt abzuriegeln. Wir kamen uns vor wie Gefangene der höchsten Berge der Erde, ohne jegliche Möglichkeit des Entkommens. Ich dachte an die alten Legenden und die Warnungen der Lamas von Tengpoche … Wir hatten es gewagt, den Frieden und die Stille der Göttin-Mutter Chomolongma zu stören.
Der nächste Tag war kalt, klar und traumhaft schön. Nach dem Frühstück konnten wir bereits mehrere „Ameisen“ erspähen, die sich dem Bergschrund näherten. Während die Kameraden mit Feldstechern Ausschau hielten, filmte ich mit langen Brennweiten und schwerem Stativ. Ausnahmsweise gab es fast keinen Wind, und dank der wärmenden Sonne war das Leben im Lager 4 recht angenehm. Einige unterzogen sich dem ungewöhnlichen Luxus persönlicher Reinigung – ein bemerkenswertes Unterfangen, das in diesen Höhen meistens in Vergessenheit gerät oder sogar streng verpönt ist. Vielleicht würden die kommenden Wochen gar nicht so schlimm werden?
Unser Gemütszustand und die Hoffnung auf einen baldigen Gipfelerfolg erreichten ein neues Hoch: Ein gutes Lager auf dem Südsattel, mit genügend Lebensmitteln, Brennstoff, Sauerstoff und Reserveausrüstung, dann noch ein letztes Sturmlager auf 8500 Meter am Südostgrat – ein einziges Zelt, knapp über einer ungeheuren Eiswand, die sich 4000 Meter tiefer mit dem Kangchung-Gletscher in Tibet vereint – und wir wären in der Lage, den ersten Gipfelangriff zu wagen. Diesmal hatten wir bessere Atmungsgeräte als während der Frühjahrsoffensive. Damals erreichten Lambert und Tensing eine Höhe von nahezu 8600 Meter, knappe 250 Meter unter dem Gipfel! Vielleicht sollten wir versuchen, ein noch höheres Lager auf etwa 8700 Meter zu errichten, dicht unterhalb der Südschulter. Selbst wenn wir nur 30 bis 50 Höhenmeter pro Stunde schaffen könnten, so hätten wir dann genügend Zeit, den Gipfel zu erreichen und mit Sicherheit vor Einbruch der Dunkelheit das höchste Sturmlager zu beziehen. Eine total erschöpfte Gipfelmannschaft, durch Sauerstoffmangel – da die Flaschen sicherlich leer wären – dem Erstickungstod nahe, könnte ein Notbiwak nicht überleben.
Soweit unsere Erwägungen und Gedankengänge an jenem sonnigen Morgen im Lager 4. Wir waren wie ausgewechselt. Ich erinnere mich noch gut an die allgemein gehobene Stimmung und den beinahe euphorischen Optimismus. Die Sherpas waren guter Dinge, beteten und sangen ihre monotonen Lieder; das vertraute Summen der Petroleumkocher, die gemütliche Atmosphäre der zum Trocknen ausgebreiteten Luftmatratzen und Schlafsäcke, die in der ausnahmsweise regungslosen Bergluft dampfenden Zelte, all das gab uns ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit und des Friedens.
Mit einem Schlag änderte sich das Bild: Drei kleine Punkte unter dem Bergschrund bewegten sich merkwürdig schnell nach unten. Wenige Minuten später waren alle im Abstieg begriffen, sogar die Dreier-Partie, die bereits in unmittelbarer Nähe des felsigen Genfer Sporns Seile gespannt hatte. Aus dieser Entfernung konnten wir uns nicht vorstellen, was passiert war. Ein Sturz über den Bergschrund wäre unangenehm, aber unterhalb war der Hang weder sehr steil noch gefährlich. Warum also stieg man ab? Ein kleiner Ausrutscher wäre doch kaum der Rede wert und noch kein Grund, die wichtige Arbeit für den Rest des Tages einzustellen. Weder Feldstecher noch Fernrohr konnten das Rätsel lösen, und Funkgeräte hatten wir keine. Nach einiger Zeit trafen zwei Sherpas im Eilmarsch ein, sie waren völlig außer Atem und übergaben uns einen Zettel von Gabriel: „Drei Sherpas verletzt! Benötige sofort Medikamente!“ Wir warfen eilig das Nötigste zusammen, und schon machten sich die Sherpas wieder auf den Weg. Jean und Gustave schulterten ihre Rucksäcke und starteten wenige Minuten später, während ich ihren Abmarsch filmte. Vielleicht war es die durch Gletschermüdigkeit und den Sauerstoffmangel verursachte Lethargie oder aber die Tatsache, dass aus großer Entfernung alles nur halb so schlimm aussah: Keiner von uns hatte auch nur die leiseste Ahnung, dass die Situation wirklich ernst war.
Am späten Nachmittag kehrten Jean und Gustave zurück. Ihre sonnenverbrannten Gesichter waren müde und eingefallen: „Mingma Dorje ist tot!“
Wir sind zutiefst erschüttert. Ang Dawas Augen füllen sich mit Tränen. Keiner spricht. Alle sind fassungslos. Wie konnte das nur geschehen? Es hatte so harmlos ausgesehen. Dann erfahren wir die Einzelheiten:
Da Gabriel mit dem Dräger-Sauerstoffgerät experimentieren wollte, verließ er Lager 5 mit einiger Verspätung. Arthur, mit Dawa Thondup und Ang Temba am Seil, war bereits ziemlich hoch über dem Bergschrund, gefolgt von zwei Sherpa-Seilschaften von je drei Mann. Gabriel, zwei Sauerstoff-Flaschen am Rücken und die Maske im Gesicht, war mit Da Namgyal und Ang Nima in einer Seilschaft verbunden. Gerade als er im Begriff war, den Bergschrund zu überqueren, hörte er laute Schreie: „Sah’b, Sah’b!“ Hoch oben in der Lhotse-Steilrinne hatte sich eine kleine Eislawine gelöst. Riesige Eisbrocken stürzten auf sie zu, es blieb keine Zeit zum Ausweichen. Sie pressten sich gegen den Steilhang und hofften auf ein Wunder. Ein gewaltiger Klumpen traf Gabriel am Rücken, aber die Sauerstoff-Flaschen schützten ihn vor ernsten Verletzungen. Da Namgyal erhielt einen Treffer und verlor fast das Bewusstsein. Die drei oberen Seilschaften hingen regungslos im Eis. Mingma Dorje wurde von seinen Kameraden am straffen Seil gehalten. Gabriel beeilte sich, zu ihm zu stoßen, musste aber zunächst eine diagonale Stufenreihe schlagen.
Mingma Dorjes Gesicht war blutüberströmt, seine Sonnenbrille zerschmettert. Er stöhnte und kam allmählich zu Bewusstsein, aber er konnte sich nicht aufrichten. Mit Hilfe eines Flaschenzuges gelang es, den Schwerverletzten über eine heikle Traverse zum fixen Seil hinüberzuziehen. Dann wurde er langsam und vorsichtig zum Bergschrund heruntergelassen. Alle waren ziemlich dicht beisammen, da verlor plötzlich die Seilschaft Aila, Da Norbu und Mingma Sitar ihren Halt und glitt immer schneller den steilen Lawinenkegel hinab. 200 Meter tiefer blieben sie liegen, jenseits einer kleinen Mulde.
Die vier Verletzten wurden auf Luftmatratzen gelegt und in Decken eingewickelt. Mingma Dorje hatte Schnittwunden und Prellungen im Gesicht, mehrere gebrochene Rippen und innere Verletzungen; Mingma Sitar hatte einen Schlüsselbeinbruch erlitten sowie Prellungen am Oberschenkel und Rippenbrüche; Ailas Gesicht war blutüberströmt und kaum zu erkennen; Da Norbu hatte glücklicherweise nur unbedeutende Prellungen. Wie durch ein Wunder waren Arthur und seine zwei Sherpas unversehrt davongekommen! Sie waren schon fast am Beginn der felsigen Rippe des Genfer Sporns, als die riesigen Eisblöcke rechts an ihnen vorbeisausten …
Wenige Stunden später hatte Gabriel die von uns heraufgesandten Medikamente erhalten und konnte Mingma Dorje und Mingma Sitar, die am schwersten verletzt waren, Pantopon verabreichen. Mingma Dorje erhielt auch noch Coramin. Er litt unter starkem Schock und wälzte sich wie von Sinnen von Seite zu Seite. Nach einiger Zeit wurde er etwas ruhiger, dann riss er plötzlich das Zelt auf, bäumte sich auf mit letzter, konvulsiver Kraft und fiel tot nach hintenüber. Mingma Dorje war Vater von drei Kindern, ein erstklassiger Sherpa und prachtvoller Kamerad …
Wir waren wie gelähmt, als wir uns im Messezelt versammelten, vor allem Tensing, der seiner Sherpa-Mannschaft gegenüber ein besonders großes Verantwortungsgefühl empfand. Wir hatten nicht nur einen unserer besten Leute verloren, nun waren wir auch mit einem neuen Problem konfrontiert: Wie stand es jetzt mit unserer Anstiegsroute zum Südsattel, die wir bisher zwar als sehr lang und anstrengend betrachteten, hingegen für objektiv sicher hielten? Sollten wir tatsächlich versuchen, die restlichen Männer dazu zu überreden, schwere Lasten durch diese Gefahrenzone zu tragen? Wir beschlossen, am nächsten Tag in aller Frühe nach Lager 5 aufzusteigen,