Ein Heiliger kann jeder werden. Hubert Gaisbauer
zehn Knaben und zehn Mädchen.
Von den Knaben, die die beiden Vettern Battista und Luigi Roncalli der Reihe nach bekamen, war Angelino der erste und wurde sofort, dank seiner spontanen Vorliebe für kirchliche Dinge und seines unschuldigen und ruhigen Aussehens und Gehabens, der Bevorzugte und blieb auch weiterhin Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit. Außerhalb des Hauses nannten die Altersgenossen Angelino Roncalli il chierichetto, den ›kleinen Geistlichen‹. Mit 8 Jahren wurde er zur heiligen Kommunion zugelassen, an einem kalten Morgen der Fastenzeit und ohne besondere Feierlichkeit. Zugegen waren nur die Knaben und Mädchen mit dem Pfarrer und dem Hilfsgeistlichen. Der Papst erinnert gerne an die große Einfachheit dieser Zeremonie und an die folgende Einzelheit, die in seinem Gedächtnis haften blieb: Nach der Zeremonie begaben sich die Erstkommunikanten in das Pfarrhaus, um sich einzeln in die Vereinigung des Gebetsapostolates einschreiben zu lassen; und der Pfarrer Rebuzzini vertraute gerade dem Angelino die Aufgabe an, die Namen seiner Schulkameraden in eine Liste einzutragen. Das war die erste Anwendung der Schreibkunst, an die er sich erinnert, das erste Blatt, dem unzählige folgen sollten in über einem halben Jahrhundert fleißiger Arbeit mit der Feder in der Hand.
Aus »Stichworte für eine Biographie
des Roncallipapstes«, verfasst von Johannes XXIII.
im ersten Jahr seines Pontifikats, diese
selbstbiographische Skizze wurde
leider nicht vollendet.
Il chierichetto – Angelino, das Pfarrerlein
Als am 25. November des Jahres 1881 – es war ein windiger, regnerischer, kalter Tag – im engen Schlafzimmer der Eltern Marianna und Giovanni Battista Roncalli ein neuer Erdenbürger geboren wurde, war die Freude groß: nach drei Mädchen endlich ein Bub! Und damit berechtigte Hoffnung auf eine zusätzliche Arbeitskraft auf den Feldern, die von der Familie gepachtet waren. Fünf Hektar Land, dazu im Stall sechs Kühe, Milch und Kälber mussten mit den Grundherren geteilt werden. Viele arme Bauern lebten so vor hundert, hundertfünfzig Jahren in Norditalien, man nannte sie mezzadri, Halbpächter. Während der ersten Lebensjahre des Neuankömmlings bewohnte die Großfamilie, die man mit bis zu dreißig Personen eigentlich schon eine Sippe nennen müsste, in Brusicco, einem Ortsteil von Sotto il Monte, ein für die Gegend typisches Wohn- und Wirtschaftsgebäude, das man in seiner Schlichtheit mit stolzer Ironie Palazzo nannte. Angelo Giuseppe, so sollte der neue Roncalli mit vollem Namen heißen, wurde noch am Tag der Geburt von Don Francesco Rebuzzini getauft. Nachdem der als Pate ausersehene Großonkel Zaverio gehört hatte, dass es ein Bub sei, rannte er zur nahen Kirche Santa Maria Assunta, um alles für die Taufe zu arrangieren. Aber der Pfarrer war auf einem Krankenbesuch. Barba Zaverio wartete drei Rosenkränze lang in der kalten Kirche. Mit Inbrunst murmelte er halblaut Ave Maria um Ave Maria – »Maria presenta Gesù al tempio di Gerusalemme« […] den du o Jungfrau im Tempel aufgeopfert hast […]« – und bat die Madonna, dass sie dieses Kind unter ihren ganz besonderen Schutz nehmen möge. Als der Pfarrer am späten Nachmittag endlich zurück war, holte Zaverio eilends den Täufling, gefolgt von Mutter Marianna und Vater Battista. Es war eine schlichte Zeremonie. Im Licht der Taufkerze fragte Don Rebuzzini: »Credi in Dio, Padre onnipotente, creatore del cielo e della terra? Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde?« Und Barba Zaverio antwortete für den kleinen Angelo Giuseppe: »Credo. Ich glaube!«
Angelo Roncallis Geburtshaus in Brusicco, Sotto il Monte; vor 1900
Barba Zaverio
Zaverio Roncalli war die unantastbare Autorität innerhalb des vielköpfigen Familienclans und auch innerhalb der Gemeinde. Er war fromm und für einen Bauern überdurchschnittlich interessiert und gebildet, besaß sogar einige Bücher und hatte eine religiöse Zeitschrift abonniert, den Bollettino salesiano, der kirchliche Themen auch aus weltweiter Sicht behandelte, dann katholische Zeitungen aus der Region und Diözese Bergamo, wo bereits damals die Ideen und ersten Aktivitäten der Katholischen Aktion lebendig waren, ja in mancher Hinsicht sogar ihren Ausgang nahmen. Daher war Zaverio auch aufgeschlossen: Mit großer Aufmerksamkeit und Sympathie verfolgte er 1878 den Pontifikatswechsel von Pius IX. zu Leo XIII., dem Papst, der in wichtigen Ansätzen bereits begonnen hatte, die Kluft zwischen Kirche und moderner Welt zu überbrücken. Ein Bild von Leo XIII., das Onkel Zaverio aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte, prägte dem kleinen Angelino sehr früh die charakteristischen Gesichtszüge des »Vaters der katholischen Soziallehre« ein.
Großonkel „Barba“ Zaverio Roncalli
Barba Zaverio nahm seine Patenpflicht sehr ernst: Als Angelino nach achtzehn Monaten im Ehebett der Eltern dem nächsten Bruder weichen musste, nahm er sein Taufkind in seine Kammer – und in seine geistliche Lehre. Man bedenke, wie besonders prägend die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes für seine spätere Entwicklung sind. Der achtsame Umgang mit den frühen Bindungsgefühlen eines Kindes hat neben der Sorge um körperliche Unversehrtheit oberste Priorität. Zu einem großen Teil lag diese Obsorge für Seele und Leib des kleinen Angelo in den Händen des Großonkels Zaverio. Er las ihm aus dem Leben der Heiligen vor, erzählte ihm von Jesus und den Aposteln und betete mit ihm. Jeden Morgen beim Aufstehen war Barba Zaverios Morgengruß das gemeinsame Beten des Angelus: L’Angelo del Signore portò l’annuncio a Maria. Und Angelino – noch schlaftrunken – hatte zu antworten: Ed ella concepì per opera dello Spirito Santo. Dann war es für die beiden auch an den Wochentagen Zeit, in die Frühmesse nach Santa Maria Assunta zu gehen. Angelino zuerst noch am Arm oder auf den Schultern des Großonkels, doch bald schon auf eigenen Füßen und als fleißiger und gewissenhafter Ministrant des Pfarrers Don Francesco Rebuzzini.
Diese Erziehung war so prägend, dass sich – mehr als siebzig Jahre später – der Roncallipapst daran erinnern wird. In der fragmentarischen autobiographischen Skizze nennt er Großonkel Zaverio »ein so wirksames Vorbild, dass der Vorrat an Erbauung nicht nur für einen Priester, sondern auch für einen Bischof und Papst ausreichen konnte.« Als Zaverio Roncalli im Mai 1912 im Alter von achtundachtzig Jahren starb, war sein Patenkind längst Sekretär des Bischofs von Bergamo. In Dankbarkeit und Liebe schrieb Don Angelo, der »liebste Großneffe«, den Text für das Erinnerungsbildchen: »Das heilige Licht des Lächelns Gottes belebe im Himmel ewig seine gepriesene Seele […]. Er war der Gerechte der Heiligen Schrift. Ehrlich, gottesfürchtig, in der Niedrigkeit seiner Herkunft und im bescheidenen Leben auf den Feldern hatte er lebendig und eindringlich die Gesinnung Christi und die Weisheit der himmlischen Dinge gelernt im Gebet und in der unablässigen Lektüre bester geistlicher Bücher.«
Heilige Priester
Zu den wichtigsten frühkindlichen Erinnerungen des späteren Papstes gehört auch, wie er als kaum Fünfjähriger seinen Pfarrer Don Rebuzzini eines Tages bei der Frühmesse über den eben verstorbenen Priester Don Luigi Palazzolo predigen hörte. Von dieser Predigt hat sich bei ihm ganz tief eingeprägt, wie der Pfarrer voll ehrfürchtiger Bewunderung von der Kanzel rief: »Der Priester Don Luigi Palazzolo ist jetzt bei Gott. Er war und ist ein Heiliger.« Von nun an waren die Worte »Priester« und »heilig« im Gedächtnis und im Herzen Angelos nicht mehr voneinander zu trennen. Vielleicht war dieser 15. Juni 1886 der Tag seiner Berufung zum Priestertum. Damals hätte es sich der kleine Bauernbub nicht träumen lassen, dass er selber siebenundsiebzig Jahre später – am 19. März 1963 – diesen Priester Don Palazzolo, den Gründer der »Gesellschaft der Schwestern der Armen« und Pionier kirchlicher sozialer Einrichtungen in der Diözese Bergamo, mit den Worten seligsprechen werde, sein Leben »war ein wahres Gedicht der Demut, der Verborgenheit eines Opfers, das heute in vollem Licht erstrahlt.«
Ein heiligmäßiger Priester war auch Don Francesco Rebuzzini selber,