Ein Heiliger kann jeder werden. Hubert Gaisbauer

Ein Heiliger kann jeder werden - Hubert Gaisbauer


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einen zukünftigen guten Priester gesehen. Spaßhalber und doch voller Ernst reagierte er auf dessen bewunderndes Aufschauen zu ihm mit der vieldeutigen Warnung: »Angelino, ich sag’ dir, werd ja kein Priester! Schau auf unser steifes Kollar, wie es am Hals einschneidet und uns würgt!« So wollte er dem Buben klarmachen, dass das Leben eines Priesters aus vielen Entbehrungen und Zwängen besteht. Angelo sah aber nur, wie die Dorffrauen den Pfarrer ehrerbietig grüßten. Den eifrigen Ministranten nannten die Kameraden in der Volksschule bald spöttisch il chierichetto, »das Klerikerlein« oder »den kleinen Pfarrer«, vielleicht auch, weil er sich immer gerne etwas hervorgetan hatte. Als einmal ein Schulinspektor die Kinder fragte, was wohl schwerer sei, ein Doppelzentner Stroh oder ein Doppelzentner Eisen, schrie die Klasse »Eisen«, aber Angelino soll etwas überheblich geantwortet haben, Doppelzentner bleibe Doppelzentner, gleich ob Stroh oder Eisen. In den Pausen hatte ihm solche Besserwisserei manchen Fußtritt eingetragen, wie Klassenkameraden später bezeugten. Und der Klassenlehrer, ein antiklerikaler Freigeist, habe diesem Mobbing vielleicht sogar mit Befriedigung zugeschaut, jedenfalls ohne einzugreifen.

       Steiniger Beginn

      Der Vater hielt nichts von den Plänen Don Rebuzzinis, Angelino zum Pfarrer von Carvico zu schicken, damit ihm dieser die Grundzüge des Lateinischen beibringe. Eine gute Note in Latein war ja merkwürdigerweise das wichtigste Kriterium, ob sich ein Bub für den Priesterberuf eignet. Eine heimliche Allianz von Pfarrer, Mutter und Patenonkel Zaverio schaffte es schließlich, den Widerstand des Vaters so zu mildern, dass Angelo zum Pfarrer von Carvico geschickt werden konnte. Dieser Pfarrer, Don Pietro Bolis, war eine mächtige Erscheinung und hatte Hände wie der homerische Riese Polyphem – und er gebrauchte sie nicht nur für geistliche Handlungen, sondern nur allzu gerne auch für kräftige Ohrfeigen und Kopfnüsse. Besonders schwere grammatikalische Verstöße wurden mit öffentlichem Knien vor dem Pfarrhaus geahndet. Als aus Angelino sechzig Jahre später der ehrwürdige Patriarch von Venedig geworden war, erinnerte er sich mit Schmunzeln daran, aber die Pädagogik von damals lehnte er kategorisch ab: Schläge würden alles nur schlechter machen, man müsse erklären und nicht verdammen – si deve spiegare e non spregiare! In der visionären Eröffnungsansprache zum II. Vatikanischen Konzil wird er Ähnliches sagen. Irrende wird die Kirche nicht mehr »mit größter Strenge verurteilen«, sondern »eher das Mittel der Barmherzigkeit« gebrauchen und in der Lehre lieber argumentieren als strafen.

      Als Angelo noch keine zehn Jahre alt war, entschieden Pfarrer und Eltern, ihn als externen Schüler an das Bischöfliche Kolleg von Celana zu schicken. Das Internat konnten sich die Roncallis nicht leisten, also wurde Angelo bei Verwandten untergebracht, hatte aber noch immer einen Schulweg von drei Kilometern, täglich zweimal. 1942 erinnerte sich Erzbischof Roncalli in einem Brief an seine Nichte Enrica an die Härte dieses Schulbesuchs: »Nach den Weihnachtsferien begleitete mich unser Vater zu den Wäldern von Faida hin, oberhalb von Villa d’Adda, und ließ mich dann allein nach Pontida weitergehen, wo ich im Haus unserer Verwandten wohnte. Wie ich da allein im Wald und in der Kälte stand und an die Wärme daheim zurückdachte, da weinte ich.«

      Das Schuljahr 1891/92 war ein Jahr des Horrors. Täglich drei Kilometer zu Fuß ins Kolleg und drei zurück. Im Haus der Verwandten war ständig Streit wegen irgendwelcher Erbangelegenheiten. Die Mitschüler im Kolleg waren verwöhnte Knäblein aus der ortsansässigen Oberschicht, die den schlecht gekleideten und der italienischen Hochsprache anfänglich nur dürftig mächtigen Bauernbuben ausgrenzten und sogar mutwillig falschen Verdächtigungen aussetzten. Und der Lateinlehrer im Kolleg? Roncalli erinnert sich später: »Er verstand vielleicht etwas von Latein, aber von Pädagogik hatte er keine Ahnung. Alles was ich in Carvico unter so vielen Schmerzen gelernt hatte, war wie weggeblasen!«

       Seminarist und Kleriker

      Um der Quälerei im Konvikt von Celana ein Ende zu bereiten und vielleicht auch, um einem Verweis von der Schule wegen schlechter Lernerfolge zuvorzukommen, entschied die tatkräftige Mutter, ihren Buben von der Schule zu nehmen. Der Vater schöpfte wieder Hoffnung auf die Arbeitskraft in der Landwirtschaft und Angelo schlich mit hängendem Kopf zur Feldarbeit. Aber wann immer er konnte, verzog er sich mit einem Buch in einen Winkel, wo ihn niemand sah. Hätten Don Rebuzzini – und mit ihm Mutter Marianna – damals aufgegeben, Kirche und Welt hätten nie einen Johannes XXIII. und vermutlich auch kein II. Vatikanisches Konzil bekommen. Aber der Pfarrer und mit ihm die Mutter glaubten an Angelos priesterliche Berufung und trieben in der Person des Bergamasker Domherrn Morlani einen Wohltäter auf, der sich bereit erklärte, die notwendigen Mittel dafür bereitzustellen, dass Angelo das Kleine Seminar in Bergamo beziehen konnte. Die Grafen Morlani waren die Besitzer der von den Roncallis gepachteten Liegenschaften. Am 3. November 1892 trat also der elfjährige Angelo Roncalli ins Kleine Seminar von Bergamo ein. Tags darauf besuchte er mit Freunden das Grab von Don Palazzolo, der ihm seit jener Predigt Don Rebuzzinis vor fünf Jahren als Priester und als »Heiliger« im Gedächtnis geblieben ist, um davor zu beten.

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       Eintragung der Taufe in den Kirchenmatriken von Sotto il Monte

      In der geordneten Atmosphäre des Knabenseminars fiel es ihm dann allerdings leicht zu zeigen, was in ihm steckte: ein ausgezeichneter Schüler, der gerne lernte und leicht auffasste. Im Jahr 1895, mit vierzehn Jahren, war er seinem Ziel auch äußerlich sichtbar einen Schritt näher gekommen: Angelo trat vom Konvikt des Kleinen Seminars ins Große Seminar von Bergamo über. Er erhielt – man stelle sich vor: mit vierzehn und wahrscheinlich noch vor dem Stimmbruch – als verbindliche Kleidung Talar, breitkrempigen Klerikerhut und die sogenannte Erste Tonsur, bei der ihm ein Büschel aus dem Kopfhaar geschnitten wurde, als Zeichen des Eintritts in den geistlichen Stand. Wenn er in den Ferien nach Hause kam, begegnete man ihm im Dorf und in der Familie plötzlich mit einer merkwürdigen Hochachtung. Er bekam eine kleine Kammer zugewiesen, damit er auch in den Ferien »ungestört studieren« konnte. Er saß mit allen am langen Mittagstisch und aß die tägliche Polenta mit Kohlsuppe oder Bohnen; nur manchmal habe ihm die Mutter »etwas Besseres« zugesteckt, berichtete später einmal einer seiner Brüder. Hier, am heimatlichen Familientisch kam es immer wieder zu kleinen Unstimmigkeiten, da Angelo erst lernen musste, seinen Hang zur Besserwisserei zu erkennen und dann konsequent zu bekämpfen. Mit Beginn seines Lebens als Kleriker führt er auch ein Tagebuch, um seine geistliche Selbsterziehung, seine Frömmigkeitsübungen, seine Erfolge und Misserfolge festhalten zu können.

       Das Ende der Kindheit

      Der junge Kleriker mit seinen geistlichen Idealen, denen er nachzustreben sich heftig vorgenommen hatte, fand allerdings zuhause längst nicht immer das vor, was man sich unter einer geordneten christlichen Familie vorstellen mag.

      Drei Generationen auf gedrängtem Raum – da ist es nicht immer friedlich zugegangen, wie vielen Briefen und Tagebucheintragungen zu entnehmen ist. Je länger er von zu Hause weg war, umso größer wurde eine unübersehbare Entfremdung als Folge der Wahrnehmung verschiedener – auch hygienischer – Unzulänglichkeiten. Vor allem war es die stets prekäre finanzielle Situation der Familie, die gerade ihn, der privilegiert im Seminar keinerlei Entbehrung erleiden musste, besonders stark drückte. So wurden die Ferien oft als quälend empfunden. Dazu noch die alten Roncallibrüder, der Großvater und der Paten-Großonkel, sie lagen in unversöhnlichem Streit und sprachen kein Wort miteinander, sodass Angelo einmal seinen Bruder fragte, wie das wohl einmal im Himmel sein werde mit den beiden,


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