Ein Heiliger kann jeder werden. Hubert Gaisbauer
Einmal bekennt er geradeheraus, er wolle seinem Namen Ehre machen und »wirklich wie ein Engel werden«. Vorbilder waren ihm dafür die drei »engelgleichen« Jesuitenjünglinge Aloisius von Gonzaga, Stanislaus Kostka und Johannes Berchmans. Sie werden bei allen möglichen Gelegenheiten angerufen und zu ihrer größeren Ehre werden die alltäglichen Demütigungen ertragen. Angelo rief den heiligen Aloisius öfter auch an »als Zeugen von Versprechen« wie etwa den Hochmut zu bändigen oder »die Zeremonien besser zu studieren«. Inzwischen ist er ja bereits zum Ostiarier (früher ein Dienst als Türhüter oder Glöckner) und zum Lektor geweiht worden. Die Heiligen, denen sich die Seminaristen gerne anvertrauten, waren in der Darstellung des 19. Jahrhunderts süßliche, blutarme Gipsfiguren, die als Vorbilder hingestellt waren. Im geistlichen Reifungsprozess des Angelo Roncalli sollte es aber noch einige Zeit dauern, bis er den Mut fand, den Gips der leeren Konvention zu zerschlagen und die wahre Substanz dessen zu entdecken, was diese Heiligen wirklich ausmacht.
Das Leben verlief in dem gewohnten und ruhigen Fahrwasser der Einübung in das angestrebte Ideal klerikalen Lebens. Er wusste, dass »Treue zu dem erkannten Willen Gottes den Kern des Evangeliums« traf. Das glückte Angelo im Seminar bedeutend besser als zuhause in Sotto il Monte. Immer wieder klagt er über Unstimmigkeiten in der Familie während der Ferien.
Am Samstag, dem 24. September 1898 hat sich Angelo in Sorge um seinen offensichtlich schwer erkrankten siebenjährigen Bruder Giovanni der verzweifelten Familie gegenüber »recht unmanierlich benommen«, dabei wollte er eigentlich nur sein »Bestes tun«. Am Abend besuchte er noch Pfarrer Rebuzzini, vermutlich, um sein Versagen mit ihm zu besprechen, vielleicht auch um zu beichten. Zuhause, in seiner Studierkammer vertraute er sich dem Tagebuch an und seufzt: »Selig, tausendmal selig, sind die Ordensleute, die fern von den Sorgen der Welt nur in Gott leben. Ich beneide euch so sehr!« Das Gespräch mit Don Rebuzzini schien ihn aber doch beruhigt zu haben, denn er beschließt den Tag mit den Worten: »Wenn ich so bedrückt bin, scheint es mir, als könnte ich mit größerem Vertrauen in die Arme Gottes sinken, und ich bin glücklich dabei.«
Am Sonntagmorgen darauf, als er in der Kirche Santa Maria Assunta alles für den Gottesdienst vorbereiten wollte, fand er Don Rebuzzini tot auf den Stufen zum Altar. Ein unglücklicher Sturz infolge eines Schwächeanfalls. »Er starb, als er dabei war, sich selber, seine Krankheit zu bezwingen, nur um die heilige Messe feiern zu können«, schreibt Angelo am Abend ins Tagebuch. »Gestern hat er mir noch Arrivederci gesagt. […] Mögen die Gebete, die der gute Pfarrer für mich, seinen Benjamin, immer aufgeopfert hat, mich zu seinem getreuen Nachfolger werden lassen, damit das Arrivederci von gestern Abend in Erfüllung gehe.« Dass der Tod von Don Rebuzzini für den siebzehnjährigen Angelo eine entscheidende Markierung auf dem Lebensweg bedeutet hat, beweist auch, dass sich im Original des Tagebuchs eine handschriftliche Ergänzung des Papstes aus dem Jahr 1962 findet, die er einfügte, als sein Sekretär mit ihm über eine mögliche Veröffentlichung des Geistlichen Tagebuchs sprach: »Geistliche Notizen bei der Monatseinkehr / nach dem Tode von Pfarrer Rebuzzini / das heilige Zeichen meiner Kindheit / und meiner Berufung.«
Ende 1898 starb noch eine wichtige Bezugsperson, Luigi Isacchi, der Spiritual des Seminars von Bergamo. Er hatte den geistlichen Weg Angelos mit viel Wohlwollen begleitet, hatte ihn bestärkt über Fortschritte oder Rückschläge sein Tagebuch zu führen und war ihm ein vertrauter Seelenbegleiter. Der neue Spiritual, Don Quirino Spampatti, hielt nicht viel von der Gewohnheit Angelos, seine »kleinen Angelegenheiten zu Papier zu bringen.« Vielleicht war er auch den ständigen Selbstanklagen gegenüber etwas skeptisch eingestellt. Nach einer zweimonatigen Abstinenz, wahrscheinlich aus Gehorsam, drängte es Angelo doch wieder zu regelmäßigen Eintragungen. Der 19. März, das Fest des heiligen Josef, schien ihm das geeignete Datum dafür. Offenbar hatte er sich mit dem neuen Spiritual bereits arrangiert, denn plötzlich stellt er sich unwissend, »ob ich selber oder jemand anderer« an dieser Schreibpause »schuld war«.
Der Horizont weitet sich
Wenn man den künftigen Weg des jungen Roncalli in den Blick nimmt, darf man nicht ohne Erstaunen feststellen, dass er in dieser geistig doch recht engen Atmosphäre des Seminars von Bergamo keinen Schaden genommen hat. Trotz eines Korsetts von Regeln, trotz zahlloser frommer Pflichtübungen verkümmerte in ihm nicht das freie Atmen des Geistes. Es entstand vielmehr ein tragfähiges Gerüst der Treue und des Vertrauens, das von Angelo nie als Erwerb oder Verdienst nach erbrachter Opfer oder anderer Leistungen angesehen wurde. Vielmehr erkannte er darin die liebende Zuwendung eines väterlichen und – wie er es oft ausdrückt – mütterlichen Gottes. Dieses Bewusstsein ließ den Weg ins Freie einer reifen Geistigkeit offen, jenseits aller Enge statischer, ja statistischer Frömmigkeit.
Mit sicherem Gespür wusste Angelo aber auch, was für sein äußeres Fortkommen gut und wichtig war. So flüchtete er im September 1899 – wieder einmal – aus einer anderen, nämlich der familiären Enge am Hof seiner Sippe. Er wanderte eine Stunde lang in das benachbarte Dorf Ghaie di Bonate Sopra, um den Pfarrer Don Locatelli zu besuchen, bei dem Angelo nach dem Tod von Rebuzzini öfter während der Ferien sein Herz ausschüttete. Doch diesmal war dafür keine Zeit, denn Don Locatelli erwartete noch einen anderen Gast, den geistlichen Grafen und Domherren von St. Peter in Rom, Monsignore Giacomo Radini Tedeschi. Der war ein Jahrgangskollege von Pfarrer Locatelli, und man sagte ihm eine große Karriere an der römischen Kurie voraus. Angelo war fasziniert von der impulsiven Geistigkeit und der weltgewandten Erscheinung des Prälaten, hätte sich aber nicht träumen lassen, dass er in wenigen Jahren dessen Sekretär sein werde, der »Schatten« des zukünftigen Bischofs und »Löwen von Bergamo«. Jedenfalls war Angelo überglücklich jetzt ein Mitglied der Kurie persönlich zu kennen, hinge doch bei einer »kirchlichen Laufbahn sehr viel von guten Beziehungen und ›zufälligen‹ Begegnungen« ab, wie der Biograph Hebblethwaite etwas boshaft anmerkt. Welchen Eindruck der bäuerliche, aber keinesfalls auf den Mund gefallene Angelo auf Monsignore Radini Tedeschi damals machte, ist nicht überliefert. Es dürfte aber nicht der schlechteste gewesen sein. Vermutlich war diese Begegnung sogar eine Initialzündung der Vorsehung für die wichtigste Periode im Leben des jungen Roncalli.
Don Angelo mit Klerikern im „Apollinare“ in Rom, 1905
Die erste Eintragung Angelos im Heiligen Jahr 1900, geschrieben während der Februar-Exerzitien, beginnt höchst pathetisch mit den drei Grundfragen der Philosophie: »Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?« Seine ebenso pathetische Antwort: »Ich bin ein Nichts.« Aber dann folgt eine viele Seiten lange Betrachtung über den Sinn seines Lebens als beseeltes Geschöpf Gottes, alle möglichen Höhen und Tiefen der Gottesbeziehung durchmessend: »Wenn ich meinen Stolz, meinen Hochmut, meine Eigenliebe nicht bekämpfe, so erwartet mich die ewige Verdammnis! Habe ich nicht schon vielmals die Hölle verdient? […] In Betrübnis und Mutlosigkeit ist dies mein Trost: der Hoffnung das Herz weit öffnen, und dann zum Himmel aufschauen. […] O Himmel, Himmel, du bist schön, und du bist für mich!« Immer wieder wird die Betrachtung unterbrochen von einem Gebet, das passagenweise an die Schönheit der »Bekenntnisse« des heiligen Augustinus erinnert: »Du, mein Gott, der du am Anfang und vor allen Zeiten warst, hast mich aus dem Nichts emporgehoben, mir Natur, Leben, Seele, alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten geschenkt; du hast meine Augen diesem Licht geöffnet, das um mich her seinen Glanz verbreitet; du hast mich erschaffen. Darum bist du mein Herr, und ich bin dein Geschöpf. Nichts bin ich ohne dich, und durch dich bin ich alles, was ich bin. Wenn du mich nicht jeden Augenblick trägst, sinke ich ins Nichts zurück, aus dem ich gekommen bin. […] Ich besitze eine Seele! Ich bin kein Stein, keine Pflanze, auch nicht irgendein Tier; ich bin ein Mensch, ein Mensch, dank der Seele, die mich belebt. Dank der Seele leuchtet ein Strahl des göttlichen Antlitzes über mir, durch das Gedächtnis bin ich dem Vater ähnlich, durch den Verstand dem Sohn, durch den Willen dem Heiligen Geist. […] O mein Gott, möge, wer will, deine anderen göttlichen Eigenschaften verherrlichen, ich werde niemals aufhören, deine Barmherzigkeit zu besingen!«
In dieser Zeit werden Angelo von der neuen Seminarleitung einige Ämter anvertraut. Er hatte sich