Ein Heiliger kann jeder werden. Hubert Gaisbauer

Ein Heiliger kann jeder werden - Hubert Gaisbauer


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solchen Argwohns, bedrückt von so vielen Sorgen, muss ich oft seufzen und manchmal kommen mir die Tränen.« Oft – so scheint es – brachte er seine Angehörigen mit den Ratschlägen eines auf seine Art pubertierenden neunmalklugen Seminarzöglings, was er zwar bald als Charakterschwäche erkannte, aber nur mit Mühe lassen konnte. Einmal, gegen Ende der Sommerferien, notierte er im Tagebuch: »Heute ist es mir wieder besonders aufgefallen: ich habe ein gehöriges Mundwerk – ho sciolto lo scilinquagnolo – und rede wohl zu viel; ohne es zu merken, fange ich an zu predigen – Sparsamkeit im Reden, das wäre ein Opfer!« Auf der anderen Seite wurde die gute Gesprächsbasis mit den Eltern zusehends schmäler. Die Mutter beklagte sich einmal bitter, dass er ihr kalt und gefühllos begegne. Schuld daran war sicher weniger mangelnde Sohnesliebe als vielmehr ein Prinzip priesterlicher Erziehung im 19. Jahrhundert, in dem Gefühlsregungen selbst innerhalb der Familie nicht gerne gesehen waren. Natürlich waren es auch das intellektuelle Milieu im Seminar von Bergamo und seine eigene fortschreitende Bildung, die ihn von den schwer arbeitenden Landleuten entfremdeten. Leise nagten Schuldgefühle an ihm, die viele Jahre später noch zu spüren sind, wenn er einmal bekennt, dass er zwar sehr viel in Büchern gelesen habe, das Wichtigste in seinem Leben habe er aber in seiner Familie, bei den Eltern und Geschwistern gelernt. Man wird nicht lange rätseln müssen, was das wohl gewesen ist. Zahllosen Briefen ist es zu entnehmen. Trotz aller menschlichen Schwächen war es die tiefe Gläubigkeit, die sich immer wieder auch als Großherzigkeit den Armen gegenüber erwies, auch wenn man selber nur über das Notwendigste verfügte. Dann war es die Geduld. Geduld, die er lernen musste vor allem im Umgang mit Menschen, die – wenn auch anfällig und schwach – doch seine Nächsten waren. Sicher war ihm die Jesaja-Stelle vom richtigen Fasten (Jes 58,7) geläufig, in der es heißt, dass es genauso wichtig ist, sich »seinen Verwandten nicht zu entziehen« wie mit den Hungrigen das Brot zu teilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, die Nackten zu bekleiden. Wie schwierig es sein kann, sich um des lieben Friedens willen mit der eigenen Meinung – oft wider besseres Wissen – zurückzuhalten, zeigen die ehrlichen Eintragungen im Geistlichen Tagebuch. Nachdem er in einer Diskussion wieder einmal den Mund zu voll genommen und die Eltern gekränkt hatte, schrieb er in sein Tagebuch von der Erkenntnis der Notwendigkeit des Schweigens. Sie wird für sein ganzes späteres Leben gültig sein, besonders schmerzhaft empfunden hat er sie als Papst. Er schreibt: »Ich erkenne, dass ich immer dafür leiden muss, wenn ich zu allem schweige, geschehe es auch in bester Absicht; ich muss alles in mir verschließen, auch wenn ich mich dem Ersticken nahe fühle.«

      Der Sommer des Jahres 1898 liest sich in der Rückschau des Geistlichen Tagebuchs wie eine einzige endlose Reihe von Selbstbezichtigungen: Nachlässigkeiten im Gebet, Lieblosigkeiten in Gesprächen, Ablenkung mit Zeitunglesen, nicht eingehaltene Vorsätze, das Gefühl, mit Gott nur »zu spielen«, Angst vor dem Fegefeuer etc. Dann aber ein Schlag, der ihn wirklich trifft, der seine Skrupel und Seelenblähungen auf den richtigen Platz verweist. Am Morgen des 25. September, es ist ein Sonntag, betritt Angelo die Kirche Santa Maria Assunta, um bei der Frühmesse zu ministrieren – und findet seinen geliebten Taufpriester Don Francesco Rebuzzini tot auf den Stufen des Altares. »Er kam mir vor – den Mund offen und blutig, die Augen geschlossen – wie Jesus, als er tot vom Kreuz abgenommen wurde.« Alle Schwierigkeiten und Prüfungen in seinem bisherigen geistlichen Leben erschienen ihm mit einem Schlag nichtig. »Was soll ich nun, nach dieser wirklichen Prüfung, nach dem größten Schmerz meines Lebens tun?« Mit dem Tod seines geistlichen Vaters endet die Kindheit – aus Angelino ist endgültig Angelo geworden, der auf dem guten, dem richtigen Weg weitergehen wird, auf den ihn einst Don Rebuzzini unter so vielen Widrigkeiten gesetzt hatte.

       Apropos

       Man schließe die Augen, nehme sich fünf Minuten Zeit und denke an seine Kindheit zurück, so früh, wie die Erinnerung reicht:

       Wer hat mir von Gott erzählt?

       Wer hat mit mir gebetet?

       Wer hat mir aus der Bibel vorgelesen?

       Wem könnte ich von Gott erzählen, wem vorlesen, mit wem beten oder eine Kirche besuchen?

      Man denke: Auch Jesus hatte Eltern, Großeltern und Verwandte, die ihn gelehrt haben, das Sh’ma Jisrael zu beten und in den Prophetenbüchern zu lesen.

      1 Erst 1919 wurden Haus und Land von den Roncallis um 55.000 Lire mit Hilfe eines Bankdarlehens gekauft. Dank eines guten Ertrags aus der ebenfalls betriebenen Seidenraupenzucht konnte die Schuld noch im selben Jahr um 11.000 Lire vermindert werden. 1946 teilte sich die Großfamilie: In der Colombera blieben die Familien von Angelos Brüdern Zaverio, Alfredo und Giovanni. Bruder Giuseppe ließ sich mit Frau und zehn Kindern in einem neuen Bauernhof in der Ortschaft Le Geròle nieder.

       Heute Morgen bei der Besinnung habe ich wieder die Eingebung vernommen, meine Gedanken, meine Kämpfe aufs Papier zu bringen, und diesmal soll mich wirklich nichts davon abbringen.

       Ich habe wieder einmal festgestellt, dass mir noch sehr, sehr viel zu tun bleibt, um ein guter Kleriker zu werden.

       Was die Demut betrifft, so sitzt im Inneren noch eine gute Portion Eigenliebe, die sich noch immer vordrängt. Nächstenliebe, ja, dafür habe ich Eifer, oder wenigstens scheint es mir so, aber die wahre Nächstenliebe der Heiligen, die Liebe, die jeder Erprobung standhält, die starke Liebe zu Gott, zum Herzen Jesu, ist noch weit entfernt. Hoffen wir aber, dass sie noch komme.

       Was die Reinheit betrifft, so ist es wahr, dass ich dank der Unbefleckten Jungfrau keine lebhaften Versuchungen verspüre, muss aber zugeben, dass ich in meinem Kopf zwei Augen habe, die mehr als geziemend sehen wollen und bisweilen unbewusst, wie ich glaube, die Oberhand über den Geist gewinnen.

       Was die Sanftmut, die Milde und die Ruhe anlangt, das heißt also alles, worin die sanfte Gewalt des heiligen Franz von Sales, meines besonderen Beschützers und ganz besonderen Vorbilds erstrahlt, so habe ich nichts Schlimmes zu verzeichnen, aber auch nicht das, was ich erreichen sollte. Manchmal erhitze ich mich zu sehr in der Diskussion, bisweilen bin ich im Umgang mit meinen Angehörigen nicht gerade angenehm, nicht gerade liebenswürdig, und unendlich viele solcher Dinge.

       Von meinen Gebetsübungen will ich lieber nicht reden, z. B. mit dem Rosenkranz bin ich ganz und gar nicht zufrieden.

       Und jetzt befassen wir uns mit dem »Tu autem [sequere me]. – Du aber: Folge mir nach!« So erneuere ich meinen Vorsatz, wahrhaft heilig zu werden, und bekenne nochmals vor dir, gütigstes Herz Jesu, dich lieben zu wollen, wie du es wünschst, und mich mit deinem Geist erfüllen zu lassen.

       Übrigens habe ich heute früh festgestellt, dass es etwas anderes ist, leichthin Vorsätze zu fassen als sie wirklich durchzuführen.

      Geistliches Tagebuch, Eintragung vom

      22. August des Heiligen Jahres 1900,

      anlässlich der monatlichen Einkehr

       Lebensregeln für junge Männer

      Bergamo, Città Alta, die historische Oberstadt: eine überschaubare Piazza mit der wunderbar vielgestaltigen Basilika Santa Maria Maggiore, daneben der architektonisch eher konventionelle Dom. Vernunft und Frömmigkeit kennzeichnen die Atmosphäre, kein großstädtisches Gehabe. Der Markuslöwe ist allgegenwärtig, war doch Bergamo 400 Jahre lang westlicher Vorposten der Republik Venedig – und in den unruhigen Jahren der Reformation das nördliche Bollwerk im Abwehrkampf gegen die vom Norden her einsickernden neuen religiösen Ideen. »Backofen des Heiligen Geistes« wurde die Bischofsstadt genannt, weil aus ihr, verglichen mit anderen italienischen Provinzhauptstädten, jahrhundertelang die meisten geistlichen Berufe hervorgingen. Rund ein Vierteljahrhundert verbrachte Angelo


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