Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


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An das viele Blut, das Messer, das aus seiner Brust ragte, seinen geschundenen Körper.

      Hastig schloss sie die Augen und dachte stattdessen an Lucien. An sein goldenes Haar und seine smaragdgrünen Augen, die ihren so ähnlich waren. Auch wenn sie sich kaum kannten, so war er immer nett zu ihr gewesen. Netter als jemals ein Mensch zu ihr gewesen war. An ihn zu denken, erleichterte es ihr ein wenig, die schrecklichen Ereignisse, die passiert waren, aus dem Kopf zu bekommen.

      Lucien wusste über sie Bescheid. Er wusste, dass sie Tiere heilen, sie sogar wieder zum Leben erwecken konnte. Nur woher?

      Und er behauptete, dass die seltsame Fremde, Heaven, ihre Zwillingsschwester war und sie beide etwas Besonderes waren. Sie wusste nicht, ob er die Wahrheit sagte, und ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Doch es gab etwas, was sie tun konnte und was ihr Hoffnung gab. Sie konnte versuchen, ihre Doppelgängerin zu finden und gemeinsam mit ihr herauszufinden, ob sie tatsächlich Schwestern waren. Warum sie keinerlei Erinnerungen mehr hatten und wer diese seltsame Königin war, von der Lucien gesprochen hatte. Gemeinsam konnten sie vielleicht in Erfahrung bringen, ob alles, was er ihr über sie erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Sie musste Heaven finden. Wenn sie ihre Schwester war, würde sie sich mit ihr an der Seite nie wieder einsam fühlen, sondern stark und voller Hoffnung. Sie konnten zusammen so viel erleben, so viele Dinge tun! O ja, sie wünschte sich, dass sie ihre Zwillingsschwester war!

      Aber wie sollte sie sie finden? Moment, hatte Lucien nicht gesagt, sie würden einander wie Magnete anziehen? Dass sie sich immer und überall fänden? Er hatte ihr die nötigen Hinweise gegeben, die sie brauchte. Nun lag es an ihr, sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit zu machen.

      Ciel stand auf und zupfte an ihrem T-Shirt, das ihr Lucien angezogen hatte. Es roch sonderbarer Weise irgendwie nach ihm. Und es roch so gut! Sie schloss die Augen, atmete den Duft ein und erinnerte sich daran, dass er ihr erneut das Leben gerettet hatte. Sie betrachtete ihre Hände. Was war das bloß für eine Medizin, die er ihr gegeben hatte, um ihre Brandverletzungen und das Fieber so schnell zu heilen? War so etwas überhaupt möglich?

      Toivo wurde wach, gähnte und bellte freudig, als sein Blick auf Ciel fiel.

      »Ja, ich habe auch Hunger«, besänftigte sie ihn, aber dann fiel ihr ein, dass heute keine Tüte mit Hundefutter und alten Sandwiches an ihrer Tür hängen würde. Und Geld hatte sie keins mehr. Doch egal, was auch passiert war und wie schlimm es nun auch für sie sein mochte, sie durfte nicht aufgeben.

      Sie suchte sich einen Pullover und eine neue Hose aus ihrem Schrank und zog sich um. Schließlich band sie Toivo an die Leine und verließ mit ihm die Wohnung.

      Draußen war es windig, aber nicht kalt. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Die Sonne schien am wolkenlosen Himmel, aber es waren nur wenige Menschen unterwegs.

      Sie schlenderte mit ihrem Hund durch die Straßen. Wo sollte sie mit dem Suchen anfangen?

      Plötzlich stand sie vor dem Gebäude des 24-Pizza-Lieferservices, dem Ort, an dem sie jahrelang für Henry gearbeitet und gelitten hatte. Völlig in Gedanken versunken war sie automatisch hierhergekommen. Sie starrte die Tür an, und ihr Herz pochte schmerzhaft in ihrer Brust. Ihr brach der Schweiß aus, ihre Hände zitterten. Von außen sah alles noch genauso aus, wie sie es hinterlassen hatte. Die Jalousien waren noch immer heruntergezogen. Der Laden sah verlassen aus. Kein Licht brannte.

      Ciel dachte an den kleinen Spatzen, der vor wenigen Tagen tot in ihrer Hand gelegen hatte. Es war leicht gewesen, ihm sein Leben zurückzugeben. Vor einiger Zeit hatte sie auch einen Hund zurück ins Leben geholt, der von einem Auto überfahren worden war. Aber sie hatte ihre Fähigkeit noch nie bei Menschen ausprobiert. Sie dachte nach. Wenn sie nun zu ihrem toten Chef gehen würde und es versuchte?

      Mit bebender Hand öffnete sie die Tür. Ciel warf einen ängstlichen Blick hinein. Es war dunkel und stickig. Der Geruch von Blut, Schweiß und Verwesung hing schwer in der Luft – was nur bedeuten konnte, dass die Leiche noch hier sein musste. Warum war in der Zwischenzeit niemand vorbeigekommen? Hatte keiner die Polizei verständigt?

      Ihr kam es fast so vor, als wäre der Mörder in der Nähe gewesen und hätte verhindert, dass sich jemand dem Laden näherte. Als hätte er neugierige Menschen davon abgehalten, den Laden zu betreten. Aber das war natürlich Unsinn. Wie hätte er das tun sollen?

      Sie wollte die Sache schnell hinter sich bringen, ehe der Anblick ihres toten, blutüberströmten Chefs ihr jeglichen Mut nahm. Hastig ging sie zum Tresen, stellte sich innerlich darauf ein, diesen schrecklichen Anblick ertragen zu müssen – doch als sie dahinter spähte, musste sie mit Entsetzen feststellen, dass der Leichnam verschwunden war. Nur noch das Blut beschmutzte den Boden.

      Ciel blickte sich um und bemerkte, dass schwache blutige Schuhabdrücke auf dem Boden zu sehen waren. Sie führten zur Hintertür.

      War der Mörder tatsächlich zurückgekehrt, um die Leiche zu entsorgen?

      Ciel hastete los und riss die Hintertür auf. Sie suchte den Boden nach weiteren Spuren ab. Doch sie endeten abrupt an der Türschwelle. Wie war so etwas möglich? Immerhin konnte der Mörder sich doch nicht wie ein Vogel in die Lüfte geschwungen haben, noch dazu mit einer Leiche.

      Sie rannte nach draußen, drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, konnte aber nichts entdecken. Sie keuchte und sank auf die Knie. Ihr kamen die Tränen. Was sollte sie jetzt bloß tun? Henry war der einzige Mensch in ihrem Leben gewesen, der ihr Schutz geboten hatte, auch wenn er ihr tagtäglich das Leben schwer gemacht hatte. Sie hätte sofort versuchen müssen, ihn wiederzuerwecken, aber sie war geflohen. Und jetzt war es zu spät. Sie weinte bitterliche Tränen.

      Doch nach einer Weile beruhigte sie sich. Nein, sie durfte jetzt nicht aufgeben und in Selbstmitleid versinken! Für ihren Chef war es zu spät, aber für sie gab es Hoffnung. Sie musste ihre Zwillingsschwester finden.

      Nur mühsam setzte sie sich wieder in Bewegung, und Toivo trottete ihr glücklich mit dem Schwanz wedelnd hinter ihr her.

      Sie ging durch die Stadt, kam an großen Einkaufszentren vorbei und spürte, wie ihr Magen laut knurrte, als sie ein paar Jugendlichen zusah, die vergnügt Döner verschlangen. Sie tastete nach ihrer Hosentasche und stellte fest, dass sie wirklich nicht einen Cent hatte. Sie bückte sich zu ihrem Hund hinunter und strich ihm übers Fell. Ihr gefiel es nicht, dass sie seine Rippen spürte. Wenn sie wenigstens ihm etwas zu essen kaufen könnte …

      Enttäuscht und frustriert setzte Ciel sich mit Toivo im Schlepptau wieder in Bewegung. Sie lief kreuz und quer durch die Stadt, folgte einem versteckten Seitenweg durch eine menschenleere Gasse und kam an einer heruntergekommenen Kneipe vorbei. Die Fassade war gealtert, die Farben verblasst. Das Schild über der Kneipe war so verblichen, dass man nicht einmal lesen konnte, wie sie hieß. Sie hatte ein großes, verdrecktes Schaufenster, und Ciel erkannte, dass sich drinnen, außer einem Barmann, der gerade nach hinten verschwand, niemand befand. Kein Wunder, keiner würde um diese frühe Uhrzeit in so einem heruntergekommenen Laden sitzen und Alkohol trinken – oder doch …

      Zwei Kerle in abgewetzten Lederjacken, der eine klein und mager mit schwarzem, fettigem Haar, der andere groß, mit Bauchansatz und Glatze, standen draußen an einem Stehtisch und rauchten Zigaretten. Sie tranken Bier aus braunen Flaschen.

      Ciel wollte gerade weitergehen, als einer der beiden sie entdeckte.

      »Hey, du da! Bleib mal stehen!«

      Ciel erschrak und drehte sich zu den beiden Männern um.

      »Das ist sie, oder?«, fragte der Dünne den Dickeren.

      Er nickte. »Ey, komm mal her, Mädchen!«

      »Ähm, w-was ist denn?«, fragte Ciel und kam zögernd auf die beiden zu. Sie kannte die Männer nicht. Vielleicht waren sie mal Kunden gewesen.

      Der dünnere Mann nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, rülpste laut, dann musterte er Ciel ausgiebig. Seine Augen waren glasig, genau wie die des anderen Typen. Vermutlich war dieses Bier nicht ihr erstes heute. Von der Alkoholfahne der beiden drehte sich Ciel beinahe der Magen um.

      »Du bist doch die Kleine, die


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