Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


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riefen den Krankenwagen.

      Das Letzte, was Ciel sah, war ihre Doppelgängerin, die mit tränenüberströmtem Gesicht herumwirbelte und davonrannte, fort von dem Unfall und von Ciel und Lucien.

       Kapitel 3

      Asche und Regen

      Sie rannten weiter, Hand in Hand, vorbei an Geschäften und Restaurants, bogen nach rechts in eine Seitengasse ein und hasteten weiter durch einen kleinen Park, der sie in Richtung Strand führte.

      Ciel konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht klar denken. Sie konnte nicht weinen. Es war, als seien ihr all die Tränen ausgegangen, und ihr Gehirn war wie benebelt. Das Einzige, wozu sie imstande war, war zu rennen. Sie wehrte sich nicht dagegen, ließ sich einfach von Lucien durch die Gegend zerren. Wohin er sie brachte, wusste sie nicht. Es war ihr egal. Alles war ihr egal. Sie konnte die entsetzlichen Bilder nicht aus ihrem Kopf vertreiben.

      »Wenn wir nicht verschwinden, bist du die Nächste, die stirbt!« Luciens Worte hallten in ihrem Kopf wider.

      Was hatte er damit gemeint?

      Erst als sie bei der heruntergekommenen Hütte am schmutzigen, menschenleeren Strand ankamen, Lucien die Tür öffnete und sie hineinführte, brach sie schluchzend auf einer Decke zusammen, die am Boden lag. Lucien schloss die Tür und hockte sich neben sie.

      »Was ist gerade passiert? Ich begreife das nicht«, schrie sie. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, sodass sie um Luft ringen musste.

      »Ich werde dir alles erzählen. Aber zuerst musst du dich beruhigen!«

      Sie hob den Kopf und blickte ihn mit tränenüberströmtem Gesicht an. Ihre Augen waren rot angeschwollen, die Lippen zitterten. Das blonde Haar war zerzaust und klebte ihr teilweise an der schweißnassen Stirn.

      Er strich ihr über die Wange und fuhr mit dem Daumen unterhalb ihres Auges entlang, um die Tränen fortzuwischen.

      Toivo kam angetrottet, ließ sich auf ihrem Schoß nieder und leckte ihr mit der Zunge über die Wange.

      »Selbst dein Hund möchte, dass du dich beruhigst«, bemerkte Lucien und lächelte, doch sein Lächeln war voller Traurigkeit. Er tätschelte Toivo den Kopf.

      Ciel schloss die Augen, doch die Bilder an die schlimmen Ereignisse wollten nicht aus ihrem Kopf verschwinden. Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Sie knetete ihre zitternden, schweißnassen Hände.

      »Es ist nämlich gefährlich, wenn man seine Gefühle nicht im Griff hat«, meinte Lucien nach einer Weile.

      Ciel lehnte sich an die Wand und schloss erneut die Augen. Sie hatte rasende Kopfschmerzen.

      »Rede endlich! Was willst du mir erzählen?« Sie wollte ihn nicht so wütend angehen, doch sie war so durcheinander und in ihr herrschte schreckliche Angst. »Antworten auf all meine Fragen?«

      Zu ihrer Verwunderung nickte er.

      »Aber ich muss vorsichtig sein«, erklärte er leise und griff nach ihrer Hand. »Du bist nämlich stark, Ciel. Stärker sogar, als du es selbst von dir erwarten würdest.«

      Sie lachte heiser auf. »Nein, ich bin nicht stark. Wäre ich es, dann wäre das alles niemals passiert. Ich hätte meinen Chef retten können und wäre nicht wie ein Feigling davongerannt. Und ich hätte ganz sicher nicht so getan, als wäre der Unfall niemals geschehen.«

      »Du hast diesen Unfall nicht verursacht. Sie ist es gewesen.« Lucien blickte ihr tief in die Augen.

      »Du meinst …« In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Wieder stiegen Tränen in ihr hoch, die sie verzweifelt niederzukämpfen versuchte.

      »Aber das ist unmöglich! Wie hätte sie das tun können?«

      »Sie ist kein«, Lucien seufzte und blickte zur Seite, »normaler Mensch.«

      »Ich verstehe nicht.« Ciel hielt sich den pochenden Kopf.

      Er schaute sie mit ernstem Blick an.

      »Wo immer sie auch hingeht, dieses Mädchen zieht eine Spur aus Leichen hinter sich her. Sie tötet Menschen. Ungewollt. Weil sie sich nicht unter Kontrolle hat. Sie gehört der Finsternis an. Leben nehmen, andere verletzen, Leid und Kummer über alles und jeden zu bringen, gehört zu ihrer Natur. Dabei will sie das alles gar nicht tun.«

      Ciel schlug sich die Hand vor den Mund. Ihre Kehle war staubtrocken.

      Plötzlich huschte ein Lächeln über Luciens Lippen. »Aber du bist das genaue Gegenteil von ihr. Du besitzt die Gabe zu heilen. Du kannst sogar Tote wieder ins Leben zurückholen.«

      Ciel schaute auf ihre Hände. »Woher weißt du davon? Ich habe diese Gabe, ja, aber ich kann das nur bei Tieren. Zumindest habe ich es bisher nie bei einem Menschen ausprobiert.« Dann starrte sie ihn entgeistert an. »Willst du mir damit sagen, dass ich eine Verrückte bin? Ich besitze diese Gabe nur, weil ich …«

      »Weil du dem Licht angehörst«, unterbrach sie Lucien in ernstem Tonfall. »Wir mussten vor deiner Zwillingsschwester fliehen, verstehst du? Sonst hätte sie dich auch getötet. Hast du das Entsetzen in ihren Augen gesehen, als ihr euch angeschaut habt? Das sind immer die ersten Anzeichen, bevor etwas Grauenhaftes geschieht. Sie ist zurückgekommen, vermutlich aus Neugierde, und wollte dich zur Rede stellen, so, wie du es vorhattest. Ich konnte gerade noch rechtzeitig bei euch sein.« Er schwieg kurz. »Keiner weiß genau, was passiert oder wieso es passiert, wenn ihr euch gegenübersteht. Und doch kann man das Grauen, das danach folgt, wahrscheinlich nicht verhindern.« Er machte erneut eine Pause, blickte in Ciels entsetztes Gesicht.

      Ihn schien es wahnsinnig zu quälen, darüber zu sprechen. Oder hatte er etwa Angst, ihr davon zu erzählen? Doch warum?

      Lucien holte Luft. »Immer wenn ihr euch begegnet, geht ihr beide ein hohes Risiko ein. Meistens bist du zuerst gestorben, ehe sie dir in den Tod gefolgt ist. Der Schock war einfach zu groß für sie. Wenn ihr euch mit Entsetzen und Angst begegnet, ist das euer beider Todesurteil, ehe ihr circa alle fünfzig Jahre erneut auf die Erde kamt, ohne Erinnerungen an eure Vergangenheit.« Seine Stimme zitterte leicht. »Wenn sie stirbt, stirbst auch du, denn ihr seid wie Yin und Yang, Gut und Böse, Licht und Finsternis. Ihr könnt nur gemeinsam existieren.« Er schwieg und biss sich auf die Unterlippe, als hätte er etwas gesagt, was er nicht hätte sagen dürfen. Dann schüttelte er den Kopf.

      »Was redest du da? Ich verstehe kein Wort.« Sie wich vor ihm zurück. Er machte ihr Angst.

      Doch Lucien ließ nicht locker. »Weißt du, Ciel, ich bin immer auf der Suche nach dir gewesen. Es war eine lange Suche und wichtig, weil du wichtig bist. Ebenso wie deine Zwillingsschwester. Ihr seid beide unglaublich wichtig!«

      Ciel schüttelte den Kopf. »Nein, das ist verrückt! Ich hatte nie eine Zwillingsschwester! Meine richtigen Eltern sind früh gestorben, und ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Jemand hätte mir doch gesagt, wenn ich eine Zwillingsschwester gehabt hätte.«

      »Heaven.«

      »Was?«

      »Ihr Name ist Heaven.«

      Lucien vermied es, ihr in die Augen zu schauen.

      »Heaven«, murmelte Ciel und legte sich die Hand aufs Herz. »Sie ist … Ich habe also tatsächlich eine Zwillingsschwester? Aber was ist dann mit unseren Eltern passiert?«

      »Eure Eltern existieren nicht. Sie haben nie existiert.« Lucien zögerte. »Alle fünfzig Jahre schickt die Königin euch beide getrennt voneinander auf die Erde. Aber deine Zwillingsschwester und du, ihr findet euch immer. Ihr zieht euch wie Magnete gegenseitig an. Aber immer endet es in einer Katastrophe.«

      »Warum? Was sind wir?« Ciel spürte, wie ihr schwindelig wurde. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Körper.

      »Die Königin … meine Königin aus meiner wahren Heimat hat euch beide erschaffen, damit ihr gemeinsam eure Bestimmung erfüllen könnt. Alle fünfzig Jahre schickt sie euch auf die Erde, nur um dann zuzusehen, wie ihr versagt und sterbt. Sie hat euch erschaffen,


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