Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


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ihr ein Gefühl, als könnte sie ihr all den Kummer und das Leid nehmen. Sie fühlte sich mit einem Mal nicht mehr ganz so traurig und verzweifelt, was sie merkwürdig fand, aber es kam ihr so vor, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Normalerweise hätte sie die Flucht ergriffen, doch sie blieb ruhig sitzen, betrachtete sein makelloses Gesicht.

      Hatte sie ihm nicht die Haut verbrannt?

      Sie blickte verblüfft auf ihre Hand. Wurde sie verrückt? Oder war das alles etwa nur ein Traum gewesen?

      Lucien zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Du kennst meinen Namen?«

      »Ein Junge namens Oscuro hat ihn mir verraten«, erwiderte Ciel leise.

      »Das ist schade.« Er verzog das Gesicht in leichtem Ärger. »Ich hatte gehofft, mich dir vernünftig vorstellen zu können, wenn wir uns wiedersehen. Und zwar so, dass du keine Angst vor mir haben würdest. Leider kam mir dieser Typ nun zuvor«, fügte er trocken hinzu.

      Es schien ihn tatsächlich zu verletzen, sich ihr nicht selbst vorgestellt zu haben. Und mit einem Mal war Ciel froh, dass er da war, auch wenn sie ihn kaum kannte. Sie brauchte jemanden, mit dem sie sprechen und sich den Kummer von der Seele reden konnte. Und Lucien war … nun ja, er war einfach da.

      »Was ist passiert? Warum hast du geweint?«, fragte er und strich ihr mit der Hand sanft über den erhitzten Kopf.

      »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht«, schluchzte sie und vergrub das Gesicht in den Händen.

      Doch dann öffnete sie ihm ihr Herz, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Mein Chef … ich war nur kurz weg … und als ich wieder zurückkam, lag er tot und blutüberströmt im Laden. Jemand muss ihn ermordet haben. Ich weiß nicht, wer es getan hat, aber ich fürchte mich so! Was ist, wenn der Mörder nun hinter mir her ist?« Sie ließ die Hände sinken und schaute ihn aus rot geweinten Augen an. »Henry hatte nichts, wofür es sich gelohnt hätte, sein Leben auszulöschen. Ich weiß, er war nicht nett zu mir, aber er war herzlich und offen seinen Kunden gegenüber. Alle mochten ihn. Er hatte keine Feinde. Ich war die Einzige, die er angeschrien hat.« Sie holte tief und bebend Luft und schloss dann die Augen.

      »Was?«, flüsterte Lucien erschrocken. »Aber wie …«

      »Ich fühle mich so schlecht, so hilflos, und ich hatte panische Angst. Ich bin einfach geflohen, habe nichts unternommen. Und dann habe ich sie wiedergesehen. Dieses Mädchen, das mir so ähnlich sieht.« Ciel versuchte das Zittern ihrer Stimme unter Kontrolle zu halten, doch sie brachte den Satz nur mühsam heraus. »Sie … sie ist schon wieder aufgetaucht. Sie ist wie ein Schatten, der mich verfolgt.«

      Lucien öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie unterbrach ihn schluchzend: »Bitte, sag mir, dass das hier alles nur ein böser Traum ist und ich gleich aufwachen werde und …«

      »Sch, sch! Alles wird gut, Ciel«, flüsterte er und zog sie in seine Arme.

      Der zärtliche Klang seiner Stimme tat ihr gut. Die Wärme, die er verströmte, ließ sie ruhiger werden, als hätte er ihr irgendein Beruhigungsmittel verabreicht. Sie lauschte seinem Herzschlag und schloss die Augen.

      »Du wirst sehen, alles wird gut«, wiederholte er und strich ihr immer wieder tröstend über den Kopf.

      »Ich hätte ihn nicht verlassen dürfen …« Ciel schniefte leise und klammerte sich an ihn, als könnte er ihr all die Angst und die Trauer nehmen. Tatsächlich schien es so, als könnte er es. Ihre Tränen und ihre Verzweiflung ließen nach.

      »Gib dir nicht die Schuld, Ciel.« Lucien streichelte ihr besänftigend den Rücken. »Wer auch immer es war, er hätte dich ebenfalls getötet, wenn du bei deinem Chef geblieben wärst.«

      Ciel seufzte erschöpft. Lucien hatte recht, der Mörder ihres Chefs hätte sie ebenfalls getötet. Vermutlich hätte sie nichts von alldem verhindern können, dennoch hasste sie sich selbst dafür, dass sie Henry nicht hatte helfen können.

      Selbst Toivo saß auf dem Boden zu ihren Füßen und winselte leise, als trauere auch er um Ciels Chef.

      Plötzlich spürte sie, wie Lucien sie losließ und sich zurückzog. Kälte durchzog ihren Körper, und sie fror mit einem Mal. Sie hob den Kopf und blickte ihn an. Sie wollte, dass er sie wieder in den Arm nahm. Sie wollte wieder diese beruhigende Wärme spüren, die er ausstrahlte.

      »Lucien?«, flüsterte sie zaghaft. Sie befürchtete, er könnte einfach weggehen und sie allein lassen. Es war, als würde er ihr Hoffnung geben, nur um sie ihr dann sofort wieder zu nehmen.

      Doch dem war nicht so. Lucien hatte sich aus einem anderen Grund von ihr abgewandt. Er hatte sich umgedreht. Seine Körperhaltung war angespannt, die Hände zu Fäusten geballt.

      »Sie ist hier«, flüsterte er plötzlich in einem so besorgten Tonfall, dass es Ciel einen Schauder über den Rücken trieb.

      Sie brauchte gar nicht zu fragen, von wem er sprach. Als sie das Mädchen hinter sich ansah, hörte ihr Herz für einen kurzen Augenblick auf zu schlagen. Ihre Doppelgängerin stand hinter einer breiten Metallabsperrung am Rand der Straße, nicht mehr als hundert Meter von ihnen entfernt, und blickte herüber. Ihre langen blonden Haare wehten im Wind.

      Ciel wollte aufstehen, auf sie zulaufen und sie zur Rede stellen. Sie wollte endlich wissen, warum sie ihr so ähnlich sah, und ob sie Antworten auf all ihre vielen Fragen hatte.

      Doch Lucien packte plötzlich ihre Hand und hielt sie zurück. Eine heiße Welle schoss durch Ciels Körper, und ein Schwindelanfall packte sie.

      »Schnell! Gehen wir.« Luciens Stimme klang ungeduldig und nervös.

      »Was? Wieso?« Ciel keuchte vor Schmerzen auf. Seine Hand, die Berührung und der Druck taten weh, und eine merkwürdige Hitze übertrug sich von seiner Haut auf ihre. Die Hitze schwoll so stark an, dass Ciel glaubte, gleich zu verbrennen.

      »Weil sie gefährlich ist. Bitte, lass uns verschwinden!« Lucien zerrte an Ciel, doch sie riss sich von ihm los.

      Ihr Zwilling stand noch immer reglos und mit neugierigem Blick da und starrte sie an. Sie bewegte keinen Muskel, es war, als wäre sie zu Stein erstarrt.

      Ciel machte einige Schritte auf sie zu. Sie öffnete den Mund, wollte ihr etwas zurufen, als sie plötzlich sah, wie ein Auto auf der belebten Straße hinter ihrem Double die Kontrolle verlor, ins Schleudern geriet und mit quietschenden Reifen und voller Wucht in einen zweiten Wagen krachte. Es gab einen lauten Knall. Voller Entsetzen beobachtete sie, wie einer der Fahrer durch die Frontscheibe geschleudert wurde, sich wie eine leblose Puppe mehrmals in der Luft überschlug und dann unweit ihres Zwillings auf dem Pflaster landete.

      Ciel stieß einen Schrei aus, wollte losrennen, um zu helfen, doch Lucien packte sie grob und zerrte sie hastig hinter sich her. »Verschwinden wir! Na los!«, befahl er aufgebracht.

      »Nein!«, schrie Ciel und wollte sich wieder losreißen.

      Doch da blieb er stehen, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie so verzweifelt an, dass ihr jeglicher Protest im Hals stecken blieb.

      »Wenn wir nicht verschwinden, bist du die Nächste, die stirbt!«

      Sein unglücklicher Tonfall drang ihr bis ins Herz und seine Worte waren wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Sie starrte ihn an, unfähig, etwas zu erwidern. Das konnte nicht sein Ernst sein! Sie sollte die Nächste sein? Aber warum? Lucien musste sich einen Scherz erlauben. Doch ein Blick in seine Augen genügte, um zu wissen, dass er es todernst meinte. Ciel wagte nicht zu protestieren. Es war, als ginge seine Angst auf sie über. Sie lähmte sie, nahm jeden Winkel ihres Körpers in Besitz, sodass sie keinerlei Kontrolle mehr über ihr Handeln und Denken hatte.

      Schlussendlich wurde sie von Lucien fortgezerrt, der in der einen Armbeuge Toivo trug und mit der anderen Hand ihre Hand fest umschlossen hielt.

      Ohne zu wissen, was sie tat, folgte sie ihm. Sie rannten beide im gleichen Tempo, ihre Füße berührten gleichzeitig den Boden. Ciel warf noch einen schnellen Blick zurück zur Straße. Die zusammengekrachten, zerbeulten Autos qualmten.


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