Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


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hätte diesen Moment zur Flucht nutzen können, doch auch sie begriff nicht, was hier vor sich ging. Sie war wie erstarrt, konnte sich nicht rühren und zitterte vor Angst am ganzen Körper. In ihrem Kopf pochte es unerträglich. Was war hier los? Etwa ein Bombenanschlag?

      Da wirbelte der Verkäufer herum und starrte sie und den blonden Jungen so hasserfüllt an, dass ihm Tränen in die Augen schossen. »Ihr! Wie habt ihr … ihr habt … Feuer …« Doch mehr brachte er nicht hervor, ehe er mit geballten Fäusten auf den Jungen losging, ihn am Kragen packte und zu Boden drücken wollte. Doch dann …

      Urplötzlich erstarrte der Verkäufer, und seine Augen wurden so groß, dass sie fast aus den Höhlen traten. Er gab ein würgendes Geräusch von sich, als bekäme er keine Luft. Weißer, mit dunkelrotem Blut gemischter Schaum sickerte ihm aus dem Mund, bevor er mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fiel und dort regungslos liegen blieb.

      Ciel wollte schreien, doch der Junge hielt ihr gerade noch rechtzeitig den Mund zu.

      »Still! Ich bin das nicht gewesen!«, flüsterte er.

      Er drehte Ciel so weit herum, dass sie zu einem nicht mehr als hundert Meter weit entfernten Baum blicken konnte, hinter dem ihre Doppelgängerin stand. Sie schien die beiden aufmerksam zu beobachten. Doch als ihr die Tränen über die Wangen flossen, wirbelte sie herum und rannte davon.

      »Sie ist es tatsächlich. Das zweite Gegenstück«, glaubte Ciel den Jungen leise murmeln zu hören. Sie wirbelte mit Tränen in den Augen zu ihm herum, brachte jedoch keinen Ton heraus.

      »Komm mit!«, sagte er, schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und schnappte sich Toivos Leine.

      In der einen Hand die Leine, an der anderen Ciel, schleifte er Hund und Frauchen hinter sich her. Zumindest bis sich Ciel, von Panik erfasst, zur Wehr setzte.

      »Nein, lass mich los!«, schrie sie. »Wer bist du überhaupt? Und was ist gerade geschehen? Der Verkäufer … er ist …« Der Rauch kratzte ihr in der Kehle und ließ sie husten. Sie hörte das laute Knistern, mit dem das Gebäude von den Flammen verzehrt wurde, spürte die sengende Hitze und sah das Flimmern in der Luft. In der Ferne waren Sirenen zu hören.

      Der Junge seufzte. »Hör zu, es tut mir leid, aber du musst mir vertrauen. Lauf einfach weiter, okay?«

      »Dir vertrauen? Du spinnst wohl«, fluchte Ciel. Sie sah zu dem Baum, hinter dem ihr merkwürdiger Zwilling gestanden hatte. Das Mädchen war fort. Als hätte es sie nie gegeben. Als wäre das alles nur ein böser Traum.

      Ciel hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so verzweifelt, so schrecklich verwirrt und hilflos gefühlt. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Was ging hier bloß vor? Wer war dieser Junge? Und wer hatte den Supermarkt in Brand gesteckt? Warum sah das Mädchen genauso aus wie sie? Und der Verkäufer war …

      Wie aus dem Nichts spürte Ciel solch eine Hitze in sich aufsteigen, als hätte sie eine Chilischote verschluckt. Ihr wurde so heiß, dass ihr davon schwindelig wurde und sie von einem Bein aufs andere schwankte. Sie konnte den Blick nicht von der Stelle abwenden, wo ihr Double gestanden hatte. Selbst der Junge, der noch immer ihre Hand festhielt, keuchte auf, als würde er es auch fühlen.

      Ciel unterdrückte einen Aufschrei, als sich die Hitze in ihr immer mehr verstärkte. Für einen kurzen Moment bekam sie sogar keine Luft mehr. Sie hatte das Gefühl, innerlich in Flammen zu stehen, so wie der Supermarkt hinter ihnen.

      Als sie sich benommen zu dem Jungen umdrehen und um Hilfe schreien wollte, spürte sie einen harten Schlag am Hinterkopf, der sie zu Boden gehen ließ. Dann verlor sie das Bewusstsein.

      Als Ciel die Augen öffnete und zu sich kam, hatte sie furchtbare Kopfschmerzen, und ihr war wahnsinnig schlecht.

      Sie stöhnte, rieb sich den Kopf und richtete sich schwer atmend auf. Alles tat ihr weh und noch immer drehte sich alles vor ihren Augen. Bloß zu blinzeln, sandte Wellen des Schmerzes durch ihren gesamten Körper. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde gleich in tausend Teile zerspringen.

      »Wo bin ich?«, murmelte sie benommen. Sie saß auf einem Feldbett, das voller Decken und Kissen war. Sie kannte weder das Bett noch den Geruch, den es verströmte. Vorsichtig tastete sie nach der Decke, unter der sie lag.

      »In Sicherheit«, antwortete eine Stimme.

      Der Junge mit den blonden Haaren und smaragdgrünen Augen setzte sich neben sie auf den Bettrand. »Ich musste dich k.o. schlagen, sonst hättest du nie Ruhe gegeben. Tut mir leid. Weißt du, es tut dir nicht gut, wenn du so«, er brauchte einen Moment, bis er die richtigen Worte fand, »emotional aufgewühlt bist.«

      »Du?!« Ciel wollte aufspringen, doch der Junge hielt sie am Handgelenk fest und versuchte, sie zu beruhigen.

      »Lass es mich erklären«, begann er.

      Als die Erinnerungen an alles, was geschehen war, auf sie einstürmten, keuchte sie auf und begann am ganzen Körper zu zittern.

      »Was soll das? Wo hast du mich hingebracht? Und was …« Sie kämpfte gegen die Tränen an.

      »Sei unbesorgt! Du bist in Sicherheit, Ciel« antwortete der Junge mit einem so sanften Lächeln, das Ciels Tränen unverhofft versiegen und ihr Herz schneller schlagen ließ.

      Obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte, so glaubte sie ihm, in Sicherheit zu sein. Doch wie konnten seine Worte nur solche Macht haben, und das Gefühl von Geborgenheit in ihr auslösen?

      Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie war zu erschöpft. Ihre blassen Lippen bebten nur stumm. Sie knetete ihre zittrigen Hände, versuchte ruhig zu atmen und sich zu beruhigen. Flüchtig blickte sie umher, um herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand.

      Sie war offensichtlich in einer schäbigen, alten Hütte. Von der Decke baumelte eine Armeelaterne, und das flackernde Licht ließ tanzende Schatten auf den Wänden erscheinen. Außer dem Bett, in dem sie lag, und einigen Taschen und Holzkisten gab es nicht viel.

      Als sie für einen kurzen Moment die Augen schloss, glaubte sie, Meeresrauschen von draußen zu hören. Sie musste sich irgendwo am Wasser befinden. Der Geruch von Salz hing in der Luft.

      »Hier, du musst am Verhungern sein«, sagte der Junge plötzlich mit unglaublich netter Stimme und riss Ciel aus den Gedanken.

      Er reichte ihr einen Teller, auf dem mit Wurst und Käse belegtes frisches Brot, Obst und Gemüse lagen. Ciel starrte das Essen an, so lange bis ihr der Magen knurrte.

      Der blonde Junge lachte leise. »Jetzt iss schon!«

      Ciel sah ihn skeptisch an. »Wo ist …?«

      »Toivo? Hier!«, unterbrach er sie und zeigte zu dem kleinen Welpen, der es sich auf einer Decke gemütlich gemacht hatte und schlief.

      Vor ihm lag ein großer angekauter Knochen, ein leerer Fressnapf und ein weiteres Schälchen mit Wasser standen ebenfalls in seiner Nähe.

      »Woher …«, begann Ciel, doch wieder wurde sie unterbrochen.

      »Woher ich wusste, dass du vermutlich hungrig bist?«

      »Nein, ich will wissen, woher du meinen Namen kennst und Toivos.« Sie starrte auf ihre Hände, ballte sie zu Fäusten und öffnete sie wieder. »Und was ist geschehen? Dieser Supermarkt … er stand plötzlich in Flammen. Du hast es doch auch gesehen, du warst dabei! Und dann dieses Mädchen, das genauso aussieht wie ich … und plötzlich ist auch noch der Verkäufer zusammengebrochen und …« Ihr versagte die Stimme und hinderte sie am Weitersprechen. Sämtliche Erinnerungen an diese schrecklichen Ereignisse explodierten förmlich vor ihren Augen. Sie schloss die Lider kurz, doch allein diese kleine Bewegung sandte nur erneut stechende Schmerzen durch ihren Kopf und ihren Körper. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, als Tränen in ihr hochstiegen.

      »Hey, hör mir zu.« Der Junge nahm sanft ihre Hände herunter und legte sie in ihren Schoß, damit sie ihn ansah. »Ich werde dir alles erzählen. Du musst dich aber beruhigen.«

      Ciels Lippen bebten. Sie öffnete den Mund, doch der Kloß in


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