Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


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erzählt zu haben. Oscuro hatte recht – Ciel verabscheute ihn nun wahrscheinlich.

      Oscuro grinste. »Ah, ich verstehe, du versuchst den Engelszwilling des Lichts um den Finger zu wickeln. Und zwar, indem du ihr Dinge erzählst, die sie nicht hören will und niemals begreifen kann. Sie hat keinerlei Erinnerungen an das, was sie ist, du Vollidiot. Es ist ein sinnloses Unterfangen, das du da versuchst! Du weißt genau, dass sie sich womöglich niemals in ihre wahre Gestalt wird verwandeln können, wenn sie sich an etwas erinnert. Das würde alles kaputt machen, verdammt!« Seine Augen wurden schmal. »Sag mir, wie gedenkst du, an den Zwilling der Finsternis heranzukommen? Sie wird genauso wenig was mit dir zu tun haben wollen, wie der Engel des Lichts. Du wirst keine der beiden bekommen.« Zynisch lächelnd machte er einen Schritt auf Lucien zu, doch der wich nicht zurück. »Sobald ich beide Zwillinge habe, werden ihre Erinnerungen erwachen. Sie werden sich wieder daran erinnern, was sie sind. Ihre mächtigen Flügel werden hervorschießen, und sie werden ihrer Bestimmung folgen, dem Töten von niederträchtigen, bösen Menschen. Selbst die Königin wird nichts gegen mich ausrichten können. Sie kann mich mal mit ihrer dämlichen Mission.«

      »Wenn du meinst, damit durchzukommen, dann bist du nichts weiter als ein naiver Dummkopf!«, feuerte Lucien zurück.

      »Du solltest auf meiner Seite stehen, Lucien«, zischte Oscuro. »Wieso willst du nicht einsehen, dass mein Weg der einzig richtige ist? Es ist weder Ciels noch Heavens Bestimmung, die Menschen zu reinigen, sondern sie zu vernichten.«

      Doch Lucien interessierte sich nicht länger für ihn. Das hier war vergeudete Zeit. Er rannte los. Er musste Ciel auf seine Seite ziehen – ehe etwas geschah, das sie und auch er noch schwer bereuen würden.

       Kapitel 2

      Blutiger Schicksalsschlag

      Es war lange nach Mitternacht, als Ciel erschöpft, ausgelaugt und ganz in Gedanken versunken im kleinen Laden des 24-Pizza-Lieferservices Mamma Mia aufkreuzte.

      Auf dem Weg dorthin hatte sie sich mehrmals verlaufen, war besorgt und grübelnd herumgeirrt und immer wieder die grausamen Dinge durchgegangen, die geschehen waren und die sie sich noch immer nicht erklären konnte.

      Sie hatte noch schnell Toivo an seinem Platz in der Gasse angebunden, bevor sie nun ihrem Chef gegenübertreten musste. Dass sie die ganze Zeit nicht aufgetaucht war, ihre Arbeit nicht erledigt hatte und ihr nun womöglich schlimme Konsequenzen drohten, interessierte sie im Moment jedoch kaum. Ihre Gedanken kreisten immer noch um all die mysteriösen Dinge, die ihr passiert waren. Sie hatte Angst, fühlte sich hilflos und wusste nicht, was sie tun oder glauben sollte. Es gab niemanden, der ihr aus diesem schwarzen Loch heraushelfen konnte. Sie musste mit all ihren verwirrenden Gefühlen und jenen merkwürdigen Ereignissen selbst klarkommen. Und nichts von alledem ergab einen Sinn, so sehr sie auch versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen.

      Der Laden war nicht sonderlich sauber. Die Tische klebten und die roten Sitzbezüge der Stühle hatten Risse, aus denen die Füllung quoll. Es roch unangenehm nach Schweiß und Zwiebeln. Auch der Boden war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht gewischt worden. Das Licht der Glühlampen flackerte schwach, eine funktionierte gar nicht.

      Außer ihr selbst und dem ständig grimmig dreinblickenden Inhaber war niemand mehr hier. Ihr Chef Henry stand hinter dem Tresen und bereitete gerade mehrere Pizzateige zu. Er schnaubte, Strähnen seines schwarzen Haares klebten ihm an der schweißnassen Stirn, während er wortlos die Teige knetete. Über seinen Schwabbelbauch spannte sich eine Schürze, die mit Mehl und Schmutzflecken übersät war. Er war so in seine Arbeit versunken, dass er nicht gehört hatte, wie Ciel den Laden betreten hatte. Erst als sie am Tresen stand, blickte er zu ihr auf.

      Seine Augen verengten sich, sein Gesicht färbte sich schneller rot als eine Ampel, und der hässliche Schnauzbart erzitterte, als er tief Luft holte, um Ciel eine Standpauke zu halten.

      »Wo zum Teufel bist du gewesen? Ich habe den Laden ohne dich geschmissen, du dumme Gans! So wie du aussiehst, warst du wohl die ganze Zeit Party machen, was? Du schmeißt mein hart verdientes Geld einfach so zum Fenster raus und versäufst alles! Ich bezahle dich nicht fürs Nichtstun! Ich verlange eine Entschuldigung«, keifte er und besprühte Ciel mit ordentlich viel Spucke.

      Durch sein ohrenbetäubendes Gebrüll hatten die Lampen an der Decke gewackelt, doch seine Worte waren wie Nebel an Ciel vorbeigezogen. Sie hatte ihm nicht zu gehört, denn in ihrem Kopf herrschte noch immer Chaos. Was vor wenigen Stunden geschehen war, kam ihr wie ein schrecklicher Albtraum vor. Doch es war real gewesen. So real, dass sie es nicht verarbeiten konnte.

      Sie biss sich auf die Lippe, aber die schrecklichen Bilder wollten einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden: Das Mädchen, das genauso ausgesehen hatte wie sie, das ohrenbetäubende Knallen und der Himmel, der sich wie bei einem apokalyptischen Sturm schlagartig stockdunkel verfärbt hatte, ein in Flammen aufgehender Supermarkt, die Hitze und der dichte Rauch. Der Verkäufer, der plötzlich vor ihren Augen zusammengebrochen und gestorben war. Nicht zu vergessen ein mysteriöser, gut aussehender Junge, dessen Namen sie nicht kannte, der aber wusste, wer sie war. Und er schien noch so viel mehr über sie zu wissen. So viel, dass es unheimlich war.

      »Du wirst jetzt den ganzen Laden auf Vordermann bringen, hast du verstanden? Mein Gesicht soll sich auf dem Boden spiegeln«, brüllte Henry sie an und feuerte ihr ein schmieriges Geschirrtuch ins Gesicht.

      Ciel hob verwirrt den Kopf und stammelte eine leise Entschuldigung.

      »Du wirst alles saubermachen, und dann will ich, dass du morgen pünktlich um sechs Uhr hier im Laden bist, kapiert? Du wirst alles nachholen, was du heute verpasst hast!« Mit diesen Worten warf er ihr noch einen nassen Lappen zu und verschwand aus dem Laden, um Feierabend zu machen.

      Was dann passierte, zog wieder nur wie Nebel an Ciel vorbei. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre große Putzaktion. Der darauf folgende Schmerz in ihren Armen und Händen war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der in ihrer Seele brannte. Immer wieder landete sie mit den Gedanken bei diesem furchtbaren Tag.

      Auch als sie mit vor Erschöpfung und Anstrengung zitternden Armen und Beinen sowie rissigen Händen im Morgengrauen auf ihrer Matratze lag und an die Decke starrte, dauerte es sehr lange, bis sie endlich Ruhe fand und in einen kurzen traumlosen Schlaf glitt.

      Ein schrilles Klingeln weckte Ciel, nach viel zu kurzer Zeit. Es dauerte einen Moment, bis es ihr gelang, die Augen zu öffnen. Sie blinzelte, tastete nach dem Wecker und stellte ihn aus.

      Ihr Körper war noch immer bleischwer, als sie sich aufrichtete und den pochenden Kopf hielt. Ihr kam es so vor, als hätte sie nur wenige Minuten geschlafen und sofort waren die schrecklichen Ereignisse des gestrigen Tages wieder in ihrem Kopf. Sie stieß einen gequälten Laut aus, schloss wieder die Augen und grub die Finger in die dünne Decke, um das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen.

      Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Noch immer konnte sie es nicht glauben, aber die Supermarkt-Diebin hatte haargenau so ausgesehen wie sie! Ciel dachte auch an den Jungen, der ihr solch unheimliches Zeug erzählt hatte. Sie hatte ihn geschlagen! Dabei hatte sie das gar nicht gewollt, aber ihre Gefühle waren mit ihr durchgegangen. Nur wieso hatte sie ihm die Gesichtshälfte verbrannt? Mit einer einzigen Berührung! Auch jetzt sah sie glasklar die rot angeschwollenen Brandblasen vor sich, die das schöne Gesicht des Jungen gezeichnet hatten.

      Würgend schlug sie sich die Hand vor den Mund, angewidert von den Erinnerungen des gestrigen Tages – und von sich selbst. Sie versuchte sich zu beruhigen, atmete tief ein und wieder aus. Nur langsam wurde ihr Puls ruhiger.

      Sie drehte den Kopf, öffnete die Augen, schaute auf die Uhr – und riss die Augen auf. Sie war sofort hellwach und sprang hoch, als sie sah, dass sie bereits eine halbe Stunde später dran war, als Henry ihr aufgetragen hatte. Ohne in den Spiegel zu sehen oder sich mit Seife und kaltem Wasser zu waschen, geschweige denn die Kleidung zu wechseln, stürmte sie aus dem Zimmer. Selbst ihre Schuhe hatte sie sich vor dem Schlafengehen nicht ausgezogen. Aber das war egal. Alles war egal – denn sie wusste, wenn sie ihrem Chef nun unter die Augen trat, würde er durchdrehen, sie anbrüllen und ihr für den Rest der Woche nicht einen


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