Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


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Augen zu schauen, beinahe übermächtig war.

      Plötzlich vernahm sie ein merkwürdiges Geräusch. Ein Reißen, als ob etwas durch Stoff brach, und etwas, das sich wie das Flattern von Flügeln anhörte. Als Ciel stehen blieb und sich dann doch umdrehte, war Oscuro verschwunden. Eine einzelne schwarze Feder wurde vom Wind davongetragen. Ciel rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich muss komplett verrückt sein«, murmelte sie.

      Nachdenklich betrat sie kurz darauf den Laden, kaufte die vom Chef gewünschten Sachen und machte sich schnell wieder auf den Rückweg. Sie hatte mehr Zeit vergeudet, als sie zuerst angenommen hatte. Fünfzehn Minuten waren längst um.

      Mit vier schweren Tüten bepackt rannte sie los, verlor unterwegs eine Paprika und eine Zwiebel, stürmte durch die Gasse und durch die Straßen zurück zum Pizza-Lieferservice. Sie wusste, dass sie viel zu spät kam, doch sie würde die Beschimpfungen ihres Chefs und die darauffolgende Bestrafung über sich ergehen lassen. Auch wenn es nicht ihre Schuld war, dass sie zu spät kam. Der Junge mit den schwarzen Haaren und den eisblauen Augen hatte ihr die Zeit gestohlen.

      Schon von weitem bemerkte sie, dass die Tür geschlossen war, was sonst nie der Fall war. Jemand hatte sogar das OPEN-Schild umgedreht. Merkwürdig.

      Ciel versuchte die Tür zu öffnen, doch sie war abgeschlossen. Was zum Geier …? Der Chef arbeitete praktisch Tag und Nacht, die meiste Zeit zusammen mit Ciel.

      Warum also sollte er die Tür abschließen?

      Als sie einen Blick durchs Fenster ins Innere werfen wollte, fiel ihr auf, dass alle Jalousien heruntergezogen waren. Sie fischte den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Drinnen war es dunkel und muffig. Kein Licht brannte. Ein merkwürdiger, leicht metallischer Geruch lag in der Luft, und Ciel konnte ein leises Tropfen vernehmen.

      »Hallo? Chef?«, rief sie, als die Tür hinter ihr wieder ins Schloss fiel.

      Keine Antwort. Es war totenstill.

      Sie stellte die schweren Taschen mit den Lebensmitteln auf dem Boden ab und ging hinüber zum Tresen. »Chef, wo …«

      Doch als sie hinter den Tresen schaute, stieß sie einen spitzen Schrei aus und taumelte zurück. Sie stolperte in einen Stuhl hinein, der samt ihr laut polternd zu Boden fiel. Ciel spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft verkrampfte und ihr die Tränen aus den Augen schossen.

      »Nein, das kann nicht sein«, würgte sie hervor. Sie stand auf und tapste vorsichtig vorwärts. Ihre Beine zitterten, sodass sie kaum vernünftig gehen konnte und einzuknicken glaubte. Mit jedem Schritt verstärkte sich das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Als sie erneut hinsah, setzte ihre Atmung kurz aus.

      Ihr Chef lag auf dem Boden hinter dem Tresen, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, und starrte an die Decke. Zumindest mit dem linken Auge. Das rechte hatte ihm jemand ausgestochen. Es war nur noch eine schwarze, leere Höhle, aus der dunkelrotes, noch frisches Blut floss. Sein schwarzes Haar war verfilzt und fettig. Man sah Stellen rosiger Haut, wo man es ihm ausgerissen hatte. Den Mund hatte er zu einem Schrei aufgerissen, das Gesicht so weiß wie das eines Geistes. Seine Wangen wiesen Schnittwunden und Kratzer auf, als hätte jemand mit einem spitzen Gegenstand versucht, ihm das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Das weiße zerrissene T-Shirt und die ebenso weiße Schürze waren blutgetränkt. Aus seiner Brust ragte ein Küchenmesser und hatte die Blutlache verursacht, die sich um ihn herum gebildet hatte.

      Ciel hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, und schlug sich würgend die Hand vor den Mund, als sich ein widerwärtiger Geschmack darin ausbreitete. Der Geruch von Schweiß und Blut im Raum machte es nicht besser. Sie wusste, dass sie zum Telefon greifen und den Notruf wählen musste. Doch sie wusste auch, sie würde keinen Ton herausbringen. Sie würde den Leuten am Ende der Leitung nicht erklären können, dass ihr gemeiner Chef, der das einzige Beständige in ihrem Leben gewesen war, von irgendjemandem ermordet worden war und nun blutüberströmt und mit einem Küchenmesser in der Brust in seiner Pizzeria lag.

      Instinktiv kam ihr das Einzige in den Sinn, wozu sie jetzt fähig war: Flucht. Blind vor Tränen stürmte sie zur Tür und hinaus ins Freie. Sie rannte los, ohne klar denken zu können. Ihr Kopf fühlte sich wie Watte an.

      Ihr Chef war tot. Jemand hatte ihn ermordet. Aber wie konnte das sein? Sie hatte ihn zuletzt vor nicht einmal einer halben Stunde gesehen, als er sie losgeschickt hatte, um die Besorgungen zu erledigen. Irgendjemand musste in diesem kurzen Zeitraum im Laden gewesen sein und ihn getötet haben. Das Blut war nicht geronnen, sondern noch sehr frisch gewesen. Der Mord musste erst vor wenigen Minuten geschehen sein. Wo war der Mörder? War er etwa nun auch hinter ihr her?

      Ciel rannte weiter, durch die Straßen und an Geschäften und Wohnhäusern vorbei. Die Tränen nahmen ihr die Sicht, dann stolperte sie und stürzte auf das harte Pflaster des Gehweges. Leute blieben stehen, sahen sie besorgt an und tuschelten, doch niemand half ihr auf die Beine.

      Ciel weinte, und ihr Herz raste, sodass sie kaum Luft bekam. Ihr Kopf war wie benebelt. Was sollte sie jetzt tun? Sie blickte auf – und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.

      Das Mädchen in Schwarz stand nicht mehr als zehn Meter von ihr entfernt auf der anderen Straßenseite und beobachtete sie. Menschen gingen einfach an ihr vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken, obwohl sie mitten auf dem Gehweg stand und den Weg versperrte. Sie wirkte wie ein Geist, den zu sehen nur Ciel in der Lage war. Sie trug dieselben Klamotten wie am Vortag und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Doch diesmal konnten Ciel und sie sich direkt in die Augen sehen.

      Ihre Blicke trafen sich – und wieder kam es Ciel so vor, als sähe sie ihr eigenes Spiegelbild. Die kristallblauen Augen ihres Zwillings waren weit aufgerissen und funkelten vor Angst. Sie öffnete den Mund. Ciel wusste nicht, was ihr Zwilling ihr zurufen wollte, aber plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke.

      »Toivo!«

      Entsetzt rappelte sie sich auf und stürmte los, ließ ihren unheimlichen Zwilling hinter sich zurück. Sie rannte zurück zu ihrer Wohnung und der kleinen Gasse, in der ihr Hund seinen Schlafplatz hatte. Atemlos hielt sie an und wieder kamen ihr die Tränen, diesmal vor Erleichterung. Toivo war an seinem Platz unter dem löchrigen Mülleimer und schlief. Doch als Ciel vor ihm stand, wurde er munter, wedelte mit dem Schwanz und bellte erfreut.

      »Oh, Toivo!« Schluchzend band sie ihn los und nahm ihn in die Arme. Sie drückte ihn an sich und war so froh, dass es wenigstens ihm gut ging. Sie hatte befürchtet, der Mörder ihres Chefs hätte auch Toivo etwas angetan.

      »Es ist etwas Schreckliches geschehen«, flüsterte sie ihrem Hund zu. Plötzlich hörte sie in der Ferne das Heulen von Sirenen. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich wieder die Panik packte, doch sie rannte erneut los, ohne zu wissen wohin. Wieder nahmen ihr die Tränen die Sicht, während sie Toivo an sich drückte und mit ihm durch die Straßen hetzte. Sie lief und lief, spürte, wie der stechende Schmerz ihre Beine emporschoss. Ihre Lunge brannte wie Feuer, sie konnte kaum richtig atmen. Das Dröhnen in ihrem Kopf war so schmerzhaft, dass sie glaubte, ohnmächtig davon zu werden.

      Ohne gemerkt zu haben, wohin sie rannte, war sie am Supermarkt angekommen – zumindest an dem Wenigen, was davon noch übrig war.

      Sie ließ sich atemlos auf ihren Platz auf der Bank fallen und starrte mit weit aufgerissenen, leeren Augen geradeaus.

      Das Feuer hatte das Gebäude komplett zerstört. Mauerreste, geborstene Fenster und Rußflecken waren noch als Reste vorhanden und der Geruch von Rauch lag in der Luft. Ein Polizeiband sperrte das Gebiet weiträumig ab. Auf dem Parkplatz war es menschenleer.

      Ciel schluchzte auf. »Was geht hier bloß vor?« Sie wusste nicht, wo sie nun hinsollte. Gab es überhaupt noch einen Platz, wo sie jetzt bleiben konnte? Sie war allein, hatte außer ihrem geliebten Toivo niemanden mehr.

      Sie erschrak, als sie plötzlich eine warme Hand auf ihrer Schulter spürte.

      »Hallo, Ciel«, sagte eine leise Stimme traurig.

      Ciel riss erschrocken den Kopf hoch, während ihr die Tränen über die Wangen rannen. Neben ihr auf der Bank saß der blonde Junge mit den smaragdgrünen


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