Engelszwillinge. Laura Wille

Engelszwillinge - Laura Wille


Скачать книгу
nur so vor ihren Augen: Ihr toter, blutüberströmter Chef, das lodernde Feuer, die Explosion des Supermarktes, ihre Zwillingsschwester … Sie bekam rasende Kopfschmerzen, fühlte sich ausgelaugt und unglaublich schwach. Kalter Schweiß rann ihr von der Stirn. Ihr war so heiß. Sie hatte das Gefühl, innerlich zu brennen. Sie fuhr sich mit der Hand über ihre feuchte Stirn.

      Vor ihrem geistigen Auge tauchten erneut Toivo und Lucien auf. Sie kniff die Augen zu, um den schmerzenden Gedanken zu verdrängen und taumelte weiter, während Regentropfen unablässig auf sie niederprasselten.

      Ciel kam an einem verlassenen Spielplatz vorbei, dessen Schaukeln sich mit unheimlich quietschenden Geräuschen im Wind bewegten. Der Weg führte sie weiter durch menschenleere, dunkle Straßen, die nur von ein paar Straßenlaternen schwach beleuchtet wurden. Sie irrte hungrig, durstig, erschöpft und fiebrig durch die Gegend, bis sie schließlich vor der Haustür des Reihenhauses ihrer Wohnung stand.

      Sie war endlich zu Hause angekommen. Sie wusste nicht, wie spät es war, sie wusste nicht, wie lange sie herumgeirrt war. Da war nichts als Leere in ihrem Kopf und brennende Schmerzen in ihrem ganzen Körper. Sie konnte nicht mehr.

      Schwer atmend stützte sie sich an der Tür ab, hatte kaum noch Kraft, um zu stehen. Fahrig tastete sie nach ihrem Haustürschlüssel, fand ihn nicht. Ihr war schwindelig. Schließlich gaben ihre Beine nach und sie sank auf die Knie.

      In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als an Toivo und Luciens Stelle in den Flammen umgekommen zu sein. Der Hass auf sich selbst raubte ihr beinahe den Verstand. Die Schuld, mit der sie von nun an würde leben müssen, Tag für Tag, brachte sie fast um.

      Oh, Toivo! Was habe ich nur getan?

      Sie blinzelte irritiert und drehte den Kopf. Neben ihr stand ein großer Karton auf dem Boden, der ihr erst jetzt auffiel. Sie tastete danach und fand einen kleinen Notizzettel, der mit einem Klebestreifen an der Seite befestigt war. Sie riss ihn ab. Auf dem Zettel standen nur vier Worte geschrieben:

      Es tut mir leid.

      Sonst nichts. Kein Name. Keine Adresse. Nichts.

      Sie zögerte erst, doch dann hob sie den Deckel an, um einen Blick hineinzuwerfen. Als sie sah, was sich im Innern befand, riss sie die Augen auf. Ihre blassen, rissigen Lippen begannen zu zittern. »Toivo!«, keuchte sie heiser.

      Ihr kleiner Labradorwelpe schlief friedlich auf einer Decke.

      »Toivo! Mein lieber Toivo! Du lebst!« Sie hob den kleinen Hund mit zitternden Händen heraus und drückte ihn an sich. Ciel weinte, diesmal vor lauter Glück, ihn lebend in den Armen zu halten. Erleichtert drückte sie ihr Gesicht in sein weiches Fell. Er war es wirklich! Er roch zwar ein wenig nach Rauch, aber es schien ihm gut zu gehen.

      Toivo wurde wach, gähnte und beschnüffelte Ciel mit seiner nassen Schnauze. Dann bellte er, leckte ihr über die heißen Wangen und wedelte mit dem Schwanz.

      Es war ein Wunder! Sie wusste nicht, wie Toivo es aus der brennenden Hütte geschafft hatte, aber er lebte! Sie drückte ihr verweintes Gesicht noch einmal in sein weiches Fell.

      »O Lucien«, flüsterte sie unwillkürlich. Hatte auch er es aus der brennenden Hütte geschafft? Oder hatte er zu viel Rauch eingeatmet? Ein kalter Schauder durchlief ihren Körper.

      Nein, sie konnte und wollte das nicht glauben. Lucien musste am Leben sein. So wie Toivo, denn Lucien musste ihn ihr gebracht haben. Nur er konnte das gewesen sein. Anders konnte sie es sich nicht erklären, dass sie ihren Hund im Arm halten konnte.

      Wo mochte Lucien jetzt sein?

      Als sie ihren zappelnden Hund neben sich setzte, wurde ihr schwindelig. Sie kippte zur Seite und landete mit der Wange auf den Pflastersteinen. Ein Keuchen entfuhr ihren Lippen. Ihr war so heiß und sie hatte solch rasende Kopfschmerzen, dass sie glaubte, ihr Schädel müsste zerspringen. Noch nie hatte sie sich so elend gefühlt.

      Flatternd öffnete sie die Augen, als sie ein leises, fernes Rascheln vernahm. Das Geräusch erinnerte sie an Vogelschwingen. Dann nährten sich Schritte. Doch sie konnte kaum etwas erkennen. Ihr Sichtfeld war verschwommen, und alles drehte sich. Sie glaubte zu sehen, wie jemand auf sie zukam. Jemand, in helles Licht gehüllt, der eine strahlende Aura verströmte, so blendend und gleißend, dass ihre Kopfschmerzen dadurch noch verschlimmert wurden. Durch den Schleier ihrer verschwommenen Sicht glaubte sie, die schemenhaften Umrisse von Flügeln zu erkennen. Flügel aus gleißendem Licht. Ein Engel?

      War ein Engel gekommen, um sie von diesem Leid zu erlösen und ihr ein besseres Leben an einem schöneren Ort zu schenken? Halluzinierte sie etwa schon? War das ihr Ende? Sollte so ihr Tod aussehen?

      So war es also, wenn man starb …

      Eine weiße Feder landete auf ihrem Handrücken, dann fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu. Sie sah nichts als Dunkelheit und verspürte eine brennende Hitze am ganzen Leib.

       Kapitel 4

      Suchen und Unverhofftes finden

      Ciel glaubte, mit nackten Füßen über Glasscherben und glühende Steine zu laufen. Das Brennen in ihrem Körper und der stechende Schmerz wurden immer heftiger, schlugen in ihr empor wie die Flammen des Feuers. War sie in der Hölle? Ihre Seele schrie. Es war kaum auszuhalten.

      Doch plötzlich war ihr, als hörte sie in der Ferne eine sanfte Stimme. »Ciel, halte durch. Es wird dir gleich besser gehen.«

      Im nächsten Moment spürte sie, wie eine warme Hand ihren Hinterkopf etwas anhob. Zwei Finger teilten ihr Lippen, ehe ein bitteres dickflüssiges Getränk ihre ausgedörrte Kehle hinabfloss. Sie schluckte aus Reflex und hustete.

      Träumte sie?

      Noch immer brannte ihr Körper wie Feuer, doch urplötzlich wurde die Hitze in ihr schwächer. Der Schmerz verebbte. Ciel spürte, wie sich ihr rasendes Herz beruhigte. Der Nebel in ihrem Kopf löste sich auf, sodass sie wieder klar denken konnte.

      »Wer ist da?«, stieß sie heiser hervor. Sie öffnete schwach die Augen und starrte an die Decke ihrer kleinen Wohnung. Vorsichtig tastend erkannte sie, dass sie andere Kleidung trug. Jemand hatte ihr statt der nassen, dreckigen Sachen, saubere, trockene angezogen. Doch wer?

      Jemand griff nach ihrer Hand und drückte sie. Ciel drehte den Kopf und zuckte zusammen.

      »Du?«, entfuhr es ihr.

      Sie wollte sich hastig aufrichten, doch zwei Hände packten sie an den Schultern und drückten sie behutsam zurück auf die Matratze. Lucien blickte sie mit einem Lächeln auf den Lippen an, doch seine Augen waren voller Traurigkeit.

      »Ich weiß, du bist nicht erfreut, mich zu sehen«, sagte er leise. »Ich bin nur hier, um dafür zu sorgen, dass Toivo nicht den wichtigsten Menschen in seinem Leben verliert.«

      Er vermied es, ihr in die Augen zu schauen, und Ciel spürte, dass er sie anlog.

      »Es war alles ganz allein meine Schuld. Manchmal ist es besser, jemandem nicht die Wahrheit zu erzählen. Es gibt«, er hielt inne, als koste es ihn Überwindung, diesen Satz zu beenden, »Menschen, die daran so leicht zerbrechen können.«

      Ciel wollte sich erneut aufsetzen, doch Toivo sprang aufs Bett und machte es sich auf ihr bequem gemacht.

      »Toivo …« Sie legte ihm die Hand auf den Kopf und blickte wieder Lucien an. »Er … lebt. Du lebst, aber wie? Ich habe doch das Feuer …«

      »Ja, du hattest deine Gefühle nicht unter Kontrolle. Immerhin habe ich Toivo rechtzeitig rausschaffen können. Und ja, mein Leben hing am seidenen Faden, aber ich habe es trotzdem überlebt. O Mann, Oscuro wäre stinksauer gewesen, wenn er davon erfahren hätte. Zur Strafe für mein Versagen hätte er mich wohl im wahrsten Sinne des Wortes zweimal getötet.« Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber was mit mir ist, ist egal. Du bist wertvoll und ich bin froh, dass du überlebt hast.«

      Ciel runzelte die Stirn. Sie sollte wertvoll sein? Das hatte er schon mal gesagt.

      Sie hob die Hände, begutachtete


Скачать книгу