Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
Verfügung gehen kann; ein allgemeiner (Grundrechts-)Verzicht würde die Wesensgehaltsgarantie missachten (Kollektivtheorie). Grundsätzlich gilt: Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht (volenti non fit iniuria). Ein Verzicht auf die Menschenwürde ist mithin nicht möglich.22 Dagegen kann auf die Ausübung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung verzichtet werden.
Zielrichtung
Als nächstes ist die sog. Zielrichtung der polizeilichen Maßnahme zu bestimmen. Sofern nicht ein Fall der Wahrnehmung einer besonderen polizeilichen Aufgabe vorliegt, geht es allein um die Abgrenzung von „präventivem“ und „repressivem“ Handeln.23 Es ist zu bewerten, ob die konkret zu prüfende Maßnahme der Gefahrenabwehr (präventives Tätigkeitsfeld) oder der Erforschung und Verfolgung von Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten (repressives Tätigkeitsfeld) zuzuordnen ist. Es kann sich allerdings die Notwendigkeit ergeben, mit eingehender Begründung eine Zuordnung vornehmen zu müssen. Dies ist etwa dann erforderlich, wenn es sich um eine Maßnahme handelt, die sowohl präventive als auch repressive Ziele verfolgt (sog. doppelfunktionale Maßnahme). Ein mögliches Abgrenzungskriterium ist die Zuordnung nach dem Schwerpunkt der konkreten Maßnahme, wobei dies nach objektiven Maßstäben oder aber aus Sicht der handelnden Beamten bewertet werden kann.
Ermächtigungsgrundlage
Steht die Zielrichtung fest, ist die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die Maßnahme möglichst präzise zu benennen;24 gedankliche „Checkliste“:
(1) Ermächtigungsgrundlage aus speziellem Gesetz
(2) Standardmaßnahme aus dem PolG NRW oder der StPO
(3) Generalklausel (§ 8 Abs. 1 PolG NRW oder § 163 Abs. 1 Satz 2 StPO)
Enthält die entsprechende Vorschrift mehrere unterschiedliche Ermächtigungsgrundlagen, sind Absatz, Satz, Nummer, Buchstabe genau zu bezeichnen.
Die Prüfung von Grundrechtseingriff, Zielrichtung und Ermächtigungsgrundlage sowie der Zuständigkeit weisen in Klausuren regelmäßig keine besonderen Schwierigkeiten auf und sollen in diesen Fällen in der gebotenen Kürze dargestellt werden. Auf eine Darstellung im Gutachtenstil kann verzichtet werden.
zu II.: Formelle Rechtmäßigkeit
Die formelle Rechtmäßigkeit ist anhand der Trias Zuständigkeit – Verfahren – Form zu überprüfen.25
Zuständigkeit
Zuständigkeit ist neben Verfahren und Form eine Voraussetzung der formellen Rechtmäßigkeit des polizei- und ordnungsbehördlichen Handelns. Es muss die im konkreten Fall zuständige Behörde handeln. Unter Zuständigkeit versteht man die Zuordnung einer Kompetenz zu einer Behörde, unter Kompetenz die Zuordnung von Aufgaben und Befugnissen. Die Zuständigkeit bestimmt also, welche Behörde welche Aufgaben zu erfüllen hat und welche Befugnisse sie dafür besitzt.26 Es gilt der Grundsatz, dass speziellere Regelungen den allgemeinen vorgehen. Grundsätzlich richtet sich die Frage der Zuständigkeit nach den Regelungen des jeweiligen Gesetzes, aus dem die Ermächtigungsgrundlage stammt. Soweit das jeweilige Gesetz dort einfach auf die zuständige Behörde verweist, richtet sich die Zuständigkeit nach den allgemeinen Regelungen des jeweiligen Landesrechts. Wenn es sich um eine Ermächtigung aus einem Bundesgesetz handelt, ist zusätzlich darauf zu achten, ob auf der Landesebene spezielle Durchführungsgesetze oder Verordnungen bestehen.27
Bei der Zuständigkeit unterscheidet man die sachliche, die instanzielle, die funktionelle und die örtliche Zuständigkeit; es handelt sich um feste Größen bei der rechtlichen Beurteilung polizeilichen Handelns.28
Die funktionelleZuständigkeit betrifft die Unterscheidung zwischen eigenständiger Aufgabenwahrnehmung und deren Beaufsichtigung durch Fach- und Rechtsaufsichtsbehörden. Die instanzielle Zuständigkeit bedeutet die Aufteilung derselben sachlichen Zuständigkeit auf die unterschiedlichen hierarchischen Ebenen. Die sachliche Zuständigkeit bezieht sich auf den Inhalt der wahrzunehmenden Aufgaben und Befugnisse. Die örtliche Zuständigkeit betrifft den räumlichen Bereich, innerhalb dessen eine sachlich zuständige Behörde handeln darf. Da sich im Regelfall eine Aufgabenzuweisung an die Kreispolizeibehörden ergibt und dort keine verschiedenen Ebenen bestehen, können die sachliche und die instanzielle Zuständigkeit zusammengefasst werden.29 Die örtliche Zuständigkeit wird Klausuren oftmals unterstellt. Ist dies nicht der Fall, genügt im Regelfall ein Hinweis auf § 7 Abs. 1 Satz 1 POG NRW (Regelzuständigkeit). Sonderfälle eines Tätigwerdens der Polizei außerhalb ihres Polizeibezirks, außerhalb von Nordrhein-Westfalen oder im benachbarten Ausland regeln §§ 8 und 9 POG NRW.30
Die sachliche Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Sätze 1, 2 (bzw. Satz 3) PolG NRW, §§ 10, 11 Abs. 1 Nr. 1 POG NRW. Für die Erforschung von Straftaten ist die Polizei gem. § 1 Abs. 4 PolG31 NRW i. V. m. § 163 Abs. 1 Satz 1 StPO zuständig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten ist die Polizei zuständig gem. § 1 Abs. 4 PolG NRW i. V. m. § 11 Abs. 1 Nr. 2 POG NRW i. V. m. § 53 Abs. 1 OWiG.32
Überdies ist die Polizei sachlich zuständig aufgrund spezialgesetzlicher Regelungen, z. B. nach dem BVersG oder dem WaffG. Aus den genannten Bestimmungen ergibt sich eine sachliche Zuständigkeit der Kreispolizeibehörden (§ 2 Abs. 1 POG NRW). Für diese handeln die tätig werdenden Polizeibeamtinnen und -beamten („Amtswalter“).
Unausrottbar scheint die in Polizeirechtsklausuren ausgelebte Neigung zu sein, innerhalb der – zumeist unproblematischen – Zuständigkeitsprüfung – eingehend darzulegen, dass eine konkrete oder gar qualifizierte (z. B. gegenwärtige) Gefahr vorliegt. Eine solche Erörterung wirkt besonders befremdlich, wenn die spätere Eingriffsnorm überhaupt keine konkrete Gefahr voraussetzt (z. B. § 12 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW).33
Verfahren
Bei der Frage des Verfahrens ist danach zu differenzieren, ob die Maßnahme als Verwaltungsakt zu qualifizieren ist oder nicht, denn die allgemeinen Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze gelten (vgl. § 9 VwVfG NRW) – nur bei Verfahren, die auf den Erlass eines Verwaltungsaktes (oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages) gerichtet sind.34 Die Relevanz der Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Realakt ist an dieser Stelle allerdings gering. Da weder das VwVfG NRW noch das PolG NRW für Realakte Verfahrensanforderungen normieren35, wird für Realakte auch eine Regelungslücke angenommen. Insoweit wird teilweise vertreten, die Regelungen des VwVfG NRW für Verwaltungsakte analog auch auf Realakte anzuwenden.36