Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
zuständig ist, da sie den Grundverwaltungsakt erlassen hat, der vollstreckt wird. Ob man dies mit § 50 Abs. 1 PolG NRW belegt, mit § 56 VwVG NRW analog69 oder durch die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen zum Grundverwaltungsakt („Verweis auf oben“), spielt letztlich keine Rolle.70
Verfahren
Zu erörtern ist, ob eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW zu erfolgen hat. Dies ist dann der Fall, wenn die Anwendung des Zwangsmittels einen Verwaltungsakt i. S. des § 35 Satz 1 VwVfG NRW darstellt. Nach mittlerweile überwiegender Auffassung haben Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges und die Ersatzvornahme regelmäßig (mangels Regelungswirkung) keine Verwaltungsaktsqualität. Es wird kein Gebot ausgesprochen, welches der Betroffene zu befolgen hätte. Vielmehr wird die Behörde ohne Weiteres zu einem selbstständigen Tätigwerden befugt. Unmittelbarer Zwang und Ersatzvornahme sind Realakte, so dass § 28 VwVfG NRW nicht anwendbar ist (§§ 9, 28 Abs. 1 VwVfG NRW) und nicht angehört werden muss. Demgegenüber wurde früher die Verwaltungsaktsqualität von Ersatzvornahme bzw. unmittelbarem Zwang bejaht, da der Zwangsmaßnahme stets eine unausgesprochene „konkludente Duldungsverfügung“ innewohne.71 Dann wäre grundsätzlich eine Anhörung des Betroffenen nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW erforderlich, kann aber wiederum wegen § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW unterbleiben. Auch diese Ansicht ist vertretbar (wenn auch überflüssig und reichlich absurd): „Denn dann müsste man z. B. behaupten, dass der Schlag des Polizisten mit dem Gummiknüppel den unausgesprochenen Befehl enthielte, diesen Schlag zu erdulden …“72.
Bei der Anwendung von Zwangsmitteln entfällt die Anhörung.
zu III. Materielle Rechtmäßigkeit
Zulässigkeit des Zwangs (§ 50 Abs. 1 PolG NRW)
Es können nur (befehlende) Verwaltungsakte (sog. Grundverfügungen) vollstreckt werden. Die entsprechende Polizeiverfügung muss einen vollstreckbaren Inhalt haben („ … auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen gerichtet“).
Im Rahmen des gestreckten Verfahrens sind alle Schritte des Verwaltungszwanges einzuhalten. Grundlegend hierfür ist das Vorliegen einer wirksamen und vollstreckbaren Grundverfügung. Dabei muss der VA auf ein Handeln, Dulden oder Unterlassen des Polizeipflichtigen gerichtet sein:73
Handlung: „Halt Polizei! Legen Sie das Messer auf den Boden.“
Duldung: „Wir werden Sie jetzt durchsuchen.“
Unterlassung: „Unterlassen Sie den Angriff.“
Voraussetzung ist, dass die Grundverfügung wirksam erlassen wurde. Unwirksame Verwaltungsakte sind nicht-existent und können deshalb auch nicht mit Zwang durchgesetzt werden. Ein Verwaltungsakt ist wirksam, wenn er bekannt gegeben wurde (§ 43 VwVfG NRW) und nicht an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet, also nicht nichtig i. S. des § 44 VwVfG NRW ist. Allein aus der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes darf nicht auf seine Nichtigkeit geschlossen werden. Nichtigkeit darf nicht mit Rechtswidrigkeit verwechselt werden. Rechtswidrige Grundverfügungen sind wirksam und können vollstreckt werden. Nur bei besonders schweren Fehlern i. S. des § 44 VwVfG NRW ist eine Verfügung nichtig und damit unwirksam.74
Hierauf ist in einer Klausur nur dann einzugehen, wenn diesbezüglich Probleme bestehen sollten, was kaum jemals der Fall sein wird.
Die Grundverfügung muss formell vollstreckbar sein. Entsprechend § 50 Abs. 1 PolG NRW kann ein Verwaltungsakt vollstreckt werden, wenn er „unanfechtbar ist oder wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat“. Unanfechtbar ist ein Verwaltungsakt erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen (Bestandskraft des Verwaltungsaktes) bzw. mit der letztinstanzlichen gerichtlichen Entscheidung (Rechtskraft). Dieser Fall hat in der vollzugspolizeilichen Praxis wegen der meist besonderen Eilbedürftigkeit der Gefahrenabwehr regelmäßig wenig Relevanz und kommt etwa in Betracht im Falle von sog. Aufenthaltsverboten (§ 34 Abs. 2 PolG NRW).75
Praxis- und klausurrelevant ist das Entfallen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels. Zwar haben nach § 80 Abs. 1 VwGO Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung (Suspensiveffekt).76 Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen entfällt in den Fällen des § 80 Abs. 2 VwGO.
§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO enthält für die typischen Maßnahmen des Polizeivollzugsdienstes eine maßgebliche Regelung: Bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten haben Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung. „Unaufschiebbar“ im Sinne der Vorschrift sind stets eilbedürftige Gefahrenabwehrmaßnahmen. Ein Abwarten würde den Erfolg der Maßnahme gefährden bzw. vereiteln.77 Dies ist beim Handeln der Vollzugspolizei regelmäßig der Fall. Weiterhin kann die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes durch die erlassende Behörde (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO: bei überwiegendem öffentlichen Interesse) angeordnet werden. Diese Alternative ist grundsätzlich dann einschlägig, wenn die Polizei einen schriftlichen Verwaltungsakt erlässt, der vollstreckt werden soll. Denn hier ist § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO („unaufschiebbare Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten) regelmäßig nicht einschlägig.78
Konnexitätsgrundsatz
Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass die Vollstreckung nur dann rechtmäßig sei, wenn auch die Grundverfügung selbst rechtmäßig ist (Grundsatz der Konnexität von Grundverfügung und Zwangsanwendung).79 Andererseits wird eine strikte Trennung zwischen Primärebene (Grundverfügung zur Gefahrenabwehr) und Sekundärebene (zwangsweise Durchsetzung) vorgenommen. Dieser Auffassung folgend ist eine Vollstreckungsmaßnahme auch dann rechtmäßig, wenn sich die sofort vollziehbare Grundverfügung (nachträglich) als rechtswidrig erweist.80 Hierfür spricht einerseits der Wortlaut von § 50 Abs. 1 PolG NRW. Der Gesetzgeber hat eine solche Voraussetzung in Abs. 1 im Gegensatz zu § 50 Abs. 2 PolG NRW nicht normiert. Dort wird als Vollstreckungsvoraussetzung (im Gegensatz zum Sofortvollzug nach § 50 Abs. 2 PolG NRW) nur gefordert, dass „ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat“, die Grundverfügung also sofort vollziehbar ist.
Wenn in einer Klausur die Rechtmäßigkeit der Grundmaßnahme vorab geprüft wurde und als rechtmäßig begutachtet wurde, ist auf die Frage der Konnexität bei der nachfolgenden Prüfung der Zwangsmaßnahme nicht einzugehen. Kommt man dagegen zu dem Ergebnis, dass die Grundmaßnahme rechtswidrig war, ist bei der Zwangsprüfung auf den Konnexitätsgrundsatz einzugehen. Gleichwohl kann (trotz rechtswidriger Grundmaßnahme) die Zwangsmaßnahme rechtmäßig sein. Wird in einer Klausur ausschließlich nach der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme gefragt (ohne dass die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung vorab zu prüfen ist), ist auf die Frage der Konnexität einzugehen.
Zulässigkeit des Zwangsmittels (§ 51 PolG NRW)
Zwangsmittel