Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
von Zwangsmitteln zuständig ist, die die zu vollstreckende Grundverfügung erlassen hat (§ 50 Abs. 2 PolG NRW, § 56 VwVG analog). Nachdem im Sofortvollzug eine solche fehlt, ist auf die hypothetische Grundverfügung abzustellen und die sachliche Zuständigkeit der Polizei zu deren Erlass kurz festzustellen.
Dabei sollte die hypothetische Grundverfügung stets exakt benannt werden (z. B. „Unterlassen Sie den Angriff“).
zu III. Materielle Rechtmäßigkeit
Neben dem Fehlen einer Grundverfügung setzt ein Vorgehen im Wege des Sofortvollzugs nach § 50 Abs. 2 PolG NRW voraus, dass dieses zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist und die Polizei hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt.
Zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr (womit die besondere Eilbedürftigkeit beim Handeln mittels Sofortvollzugs beschrieben wird) muss der Sofortvollzug – also die Zwangsanwendung ohne vorausgehenden Verwaltungsakt – notwendig sein. Eine solche Notwendigkeit liegt vor, wenn der Zeitraum zwischen der Feststellung der gegenwärtigen Gefahr und dem voraussichtlichen Schadenseintritt so gering ist, dass die Durchführung des gestreckten Verfahrens den Erfolg des Zwangsmittels unmöglich machen oder wesentlich beeinträchtigen würde.86 Die Notwendigkeit ergibt sich somit regelmäßig daraus, dass bis zur möglichen Ausführung der Abwehrmaßnahme ein gestrecktes Verfahren nicht abgewartet werden kann, da der Schaden kurzfristig einzutreten droht.87
Die Polizei muss „innerhalb ihrer Befugnisse“ handeln. Im Gegensatz zum gestreckten Verfahren ist der Konnexitätsgrundsatz hier also gesetzlich angeordnet. Eine Vollstreckung im Wege des sofortigen Vollzugs ist deshalb nur dann rechtmäßig, wenn eine entsprechende Grundverfügung – würde sie tatsächlich ergehen – auch rechtmäßig wäre. Es müssen also stets die Voraussetzungen für eine mittels Sofortvollzugs durchgesetzte „fiktive Grundverfügung“ (hypothetischer Verwaltungsakt) vorliegen.
Anders als teilweise vorgeschlagen88 ist dabei ausschließlich zur materiellen Rechtmäßigkeit der gedachten Grundverfügung Stellung zu nehmen. Auf deren formelle Rechtmäßigkeit ist nicht einzugehen.
Denn die Zuständigkeit der Polizei zum Erlass der fiktiven Grundverfügung wurde bereits bei der Zuständigkeit zur Zwangsanwendung bejaht. Ausführungen zu etwaigen allgemeinen Form- und Verfahrensvorschriften (z. B. Anhörung oder ein etwaiges Schriftformerfordernis) sind indes bei der Prüfung einer Verfügung, die nicht ergangen ist, überflüssig und ergeben keinen Sinn.89
Da die Grundverfügung tatsächlich nicht ausgesprochen wurde, also nur „gedacht“ ist, ist bei der Prüfung in der Klausur der Konjunktiv zu verwenden. Eine häufige Fehlerquelle liegt darin, dass bei der Inzidentprüfung der fiktiven Grundmaßnahme „der Überblick verloren geht“ und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit nicht mehr allein auf die Grundmaßnahme abgestellt wird, sondern auch auf die Zwangsmaßnahme. Anzuraten ist daher eine klare, detaillierte Klausurgliederung unter Verwendung eindeutiger Überschriften.
IV. Prüfung einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme („gestrecktes Verfahren“) 90
Prüfung der Grundmaßnahme ist erfolgt
I. Ermächtigungsgrundlage
Nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes bedarf es bei einem Grundrechtseingriff einer Ermächtigungsgrundlage, welche auf ein verfassungsmäßiges Gesetz zurückzuführen ist.
1. Grundrechtseingriff
2. Zielrichtung
3. Ermächtigungsgrundlage (aus Grundmaßnahme, z. B. § 81a StPO i. V. m. §§ 57 ff. PolG NRW
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Zuständigkeit (Verweis zur Grundmaßnahme)
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Zulässigkeit des Zwangs
a) Die Eingriffsermächtigung der Grundmaßnahme enthält auch die Befugnis zum Zwang und der Anwendung des unmittelbaren Zwanges, wenn die durchzusetzende StPO-Maßnahme rechtmäßig ist
b) Rechtmäßigkeit der Grundmaßnahme
c) Grundmaßnahmen – Maßnahme wird nicht befolgt, da Adressat sich weigert
2. Zulässigkeit des Zwangsmittels
– Es kommt nur die Anwendung unmittelbaren Zwanges in Betracht
3. Art und Weise der Zwangsanwendung, §§ 57 ff. PolG NRW
– Androhung (§§ 57 Abs. 1 i. V. m. 61 PolG NRW)
4. Bei Anlass: Besondere Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
a) Fesselung (§§ 57 Abs. 1 i. V. m. 62 PolG NRW)
b) Schusswaffengebrauch (§§ 57 Abs. 1 i. V. m. 63 ff. PolG NRW)
5. Ermessen
6. Übermaßverbot
a) Geeignetheit
b) Erforderlichkeit
c) Verhältnismäßigkeit
IV. Ergebnis
V. Prüfung einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme („Sofortvollzug“)
Die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme im Sofortvollzug ist vorzunehmen wie Prüfung im gestreckten Verfahren, indes mit dem Unterschied, dass hier eine fiktive strafprozessuale Grundmaßnahme zu prüfen ist.
Erläuterungen zur Prüfung einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme
zu I. Ermächtigungsgrundlage
Im Strafprozessrecht ergibt sich nach h. M. das Recht zur Vollstreckung der Eingriffsmaßnahme aus der jeweiligen StPO-Befugnisnorm selbst.91 Dass z. B. bei Maßnahmen nach der StPO überhaupt auch Zwang zur Durchsetzung in Betracht kommt, ergibt sich vor allem aus praktischen Erwägungen. Nach überwiegender Auffassung schließen die Ermächtigungsnormen der StPO daher auch die Befugnis ein, (unmittelbaren) Zwang zur Durchsetzung bzw. Ermöglichung der Maßnahme einzusetzen (z. B. bei der Entnahme von Blutproben, §§ 81a StPO).92 Diese „großzügige“ Interpretation der StPO hat vor allem historische Gründe. Die StPO ist ein vorkonstitutionelles Gesetz aus dem Jahr 1877 und kann folglich nicht den Stand heutiger Vollstreckungsgesetze aufweisen.93 Bei repressiven Befugnissen gilt noch heute sinngemäß der Rechtszustand, wie er bereits in § 89 der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht formuliert war: Wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann“.94