Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
Ermessen (Entschließungs- und Auswahlermessen)
„Ermessen“ bedeutet, dass den handelnden Polizeibeamten durch die Ermächtigungsgrundlage Entscheidungsspielräume hinsichtlich der Rechtsfolge, also der zu treffenden Maßnahme eingeräumt sind.51 Zwei Stufen der Ermessenausübung sind zu unterscheiden:52
– Entschließungsermessen: Infrage steht das Handeln überhaupt.
– Auswahlermessen: Infragesteht die Art der Maßnahme selbst.
Bei präventivem Handeln, insbesondere zur Gefahrenabwehr, kommt der Polizei ein Entschließungsermessen zu. Sie kann also entscheiden, ob sie überhaupt tätig wird. Gem. § 3 Abs. 1 PolG NRW hat die Polizei ihre Maßnahmen nach „pflichtgemäßem Ermessen“ zu treffen (§ 3 Abs. 1 PolG NRW). Bei der Rechtmäßigkeitsprüfung einer bereits getroffenen Maßnahme ist allein zu prüfen, ob der Polizei Ermessensfehler unterlaufen sind. Die Frage der Ermessensreduzierung spielt dabei hauptsächlich in Verpflichtungskonstellationen eine Rolle, in denen ein Anspruch auf das Ergreifen einer bestimmten Maßnahme geltend gemacht wird. Mitunter besteht eine „Ermessensreduktion auf Null“, insbesondere wenn es um die Abwehr von Lebensgefahren geht.53 Ob eine Ermessensreduktion auf Null vorliegt, ist im Rahmen einer Güterabwägung zu ermitteln. Ermessensreduzierende Gründe sind dabei:54
– Schwere und Ausmaß der Gefahr,
– die hohe Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts und
– die Möglichkeit der Polizei zum Handeln und das Fehlen anderer vorrangiger Aufgaben.
Die Schutzpflicht des Staates ist umso stringenter, je höher der Rang des jeweiligen Grundrechts bzw. Rechtsguts innerhalb der Wertordnung anzusetzen ist.
Liegt der Anfangsverdacht einer Straftat vor, greift das sog. Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2, § 163 Abs. 1 Satz 1 StPO).55 Ein „Entschließungsermessen“ der Polizei, ob sie überhaupt zur Erforschung der Straftat tätig wird, besteht in diesem Fall nicht. Unzutreffend ist es allerdings, bei repressiven Maßnahmen im Zusammenhang mit Straftaten ein Ermessen generell abzulehnen. Denn die handelnden Polizeibeamten können auch im repressiven Tätigkeitsfeld entscheiden, an wen sie ihre Maßnahmen richten, z. B. welchen Zeugen sie zuerst vernehmen bzw. welche repressiven Maßnahmen zunächst getroffen werden sollen.
Formulierungsvorschlag:56
„Bei repressiven Maßnahmen im Zusammenhang mit Straftaten ist das Entschließungsermessen wegen des Legalitätsgrundsatzes auf Null reduziert. Ermessensfehler sind im Übrigen nicht ersichtlich.“
Verhältnismäßigkeit i. w. S./Übermaßverbot
Die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes spielt eine entscheidende Rolle und wird in vier Schritten vollzogen
(1) Legitimität des Zwecks der Maßnahme; dieser Zweck der Maßnahme ist dann legitim, wenn er sich im Rahmen der Staatsaufgaben bewegt
(2) Geeignetheit der Maßnahme; die Maßnahme ist geeignet, wenn sie zur Erreichung des angestrebten Ziels objektiv zwecktauglich ist
(3) Erforderlichkeit der Maßnahme; die Maßnahme ist erforderlich, wenn kein anderes milderes Mittel zur Verfügung steht
(4) Verhältnismäßigkeit i. e. S.; die Maßnahme ist angemessen, wenn sie den Betroffenen nicht übermäßig belastet und nicht unzumutbar ist. „Zweck“ und „Mittel“ müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen (sog. „Mittel-Zweck-Relation“).57
Der legitime Zweck ist zu bestimmen, um im Rahmen der Geeignetheit feststellen zu können, ob die Maßnahme diesen Zweck jedenfalls fördern kann. Bei präventiven Maßnahmen kann als Zweck allgemeiner die Gefahrenabwehr, konkreter das jeweils geschützte Rechtsgut (bzw. die geschützten Rechtsgüter) benannt werden.58 Bei repressiven Maßnahmen ist der Zweck die Sicherung einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung bzw. einer Ahndung von Ordnungswidrigkeiten.59
Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie objektiv zwecktauglich ist, das polizeiliche Ziel zu erreichen, wenn sie den Zweck jedenfalls fördern kann („Schritt in die richtige Richtung“). Nur wenn sie unter allen denkbaren Gesichtspunkten nichts zur Erreichung des Zwecks beitragen kann, ist sie als ungeeignet und damit als unverhältnismäßig (und rechtswidrig) zu bewerten.
Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn es kein milderes, mindestens gleich geeignetes Mittel gibt. An dieser Stelle ist zu erörtern, welche Handlungsalternativen in Betracht gekommen wären. Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat die Polizei gem. § 3 Abs. 1 PolG NRW diejenige zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt.
Bei der Verhältnismäßigkeit i. e. S. muss festgestellt werden, ob die Maßnahme auch angemessen gewesen ist. Hierbei ist die Zweck-Mittel-Relation zu erörtern. Der Eingriff in die Grundrechte des Adressaten darf nicht außer Verhältnis zu dem zu erreichenden Zweck stehen. Bei präventiven Maßnahmen sind die Grundrechte des Adressaten gegen die geschützten Rechtsgüter gefährdeter Dritter abzuwägen.
Einen gravierenden Fehler stellt es dar, wenn auch bei repressiven Maßnahmen die Grundrechte des Adressaten gegen die Grundrechte des „Opfers“ einer Straftat abgewogen werden. Denn der Zweck solcher Maßnahmen ist nicht – wie bei Gefahrenabwehrmaßnahmen – der Rechtsgüterschutz, sondern die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung.60 Daher sind die Grundrechte des Adressaten gegen das staatliche Strafverfolgungsinteresse abzuwägen.61
II. Prüfung einer gefahrenabwehrenden Zwangsmaßnahme im gestreckten Verfahren 62
Prüfung der Grundmaßnahme ist erfolgt
I. Ermächtigungsgrundlage
Nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes bedarf es bei einem Grundrechtseingriff einer Ermächtigungsgrundlage, welche auf ein verfassungsmäßiges Gesetz zurückzuführen ist.
1. Grundrechtseingriff
2. Zielrichtung
3. Ermächtigungsgrundlage
II. Formelle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme
1. Zuständigkeit
– Verweis auf vorgängige Prüfung der Grundmaßnahme
– § 56 VwVG NRW analog
2. Verfahren
– Anhörung entfällt (Ersatzvornahme/Unmittelbarer