Der Hersteller im europäischen Produktsicherheitsrecht. Christian Piovano
Auslegungsergebnisse auszuschließen, welche die Grenze zwischen der Auslegung hin zur Rechtsfortbildung überschreiten.
Ob ein Auslegungsergebnis diese Grenze überschreitet, entscheidet sich danach, welche Art von Gegenstand beziehungsweise Sachverhalt vorliegt. Dabei ist zwischen neutralen, positiven und negativen Kandidaten119 zu unterscheiden.120 Lediglich bei einem neutralen Kandidaten wird die Methodik der Auslegung angewandt. Bei neutralen Kandidaten besteht keine Gewissheit darüber, ob die Vorschrift auf sie anwendbar ist, sodass eine Unsicherheit besteht.121 Positive Kandidaten sind eindeutig vom Wortlaut der Vorschrift erfasst, negative unzweifelhaft nicht. Soll nun beispielsweise von einer Vorschrift ein weiterer negativer Kandidat miterfasst werden, handelt es sich um eine Rechtsfortbildung und nicht um eine Auslegung der Vorschrift. Bei positiven und negativen Kandidaten wird folglich das Terrain der Rechtsfortbildung beschritten, wohingegen bei neutralen Kandidaten eine Auslegung des Begriffs stattfindet.
b) Abgrenzung der verschiedenen Kandidaten
Der Herstellerbegriff muss daher ein neutraler Kandidat sein, um der Auslegung zugänglich zu sein. Die Abgrenzung zwischen verschiedenen Kandidaten ergibt sich aus sprachlichen Eigenheiten, die dazu führen, dass die Bedeutung eines Wortes beziehungsweise Gegenstands oftmals nicht eindeutig zuzuordnen ist.122 Entscheidend ist somit, was die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ausmacht. Dabei wird zwischen der Extension, dem Bezeichneten, sowie der Intension, der Bedeutung im eigentlichen Sinne, unterschieden.123 Die Sprachwissenschaft unterscheidet in einem semantischen Dreieck zwischen dem Zeichen, dem Bezeichneten (Extension) und dem, was die Verbindung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten herstellt: der Bedeutung im eigentlichen Sinne (Intension). Die Intension ist nicht naturgegeben, vielmehr handelt es sich um Wortgebrauchsregeln, die sich zum Zwecke der Verständigung über die Welt herausgebildet haben.124 Jedoch ist entscheidend, in welcher Sprachgemeinschaft die Wortgebrauchsregeln herausgebildet wurden und welche Sprachgemeinschaft125 die ausschlaggebende Instanz darstellt. Darüber hinaus besteht die Problematik eines inkonsistenten Sprachgebrauchs, wodurch selbst innerhalb der Sprachgemeinschaft eine mehrschichtige Bedeutung erwachsen kann.126 Folglich ist der relevante Sprachgebrauch zu identifizieren, der den Rahmen und den Ausgangspunkt der Suche nach der Bedeutung der Norm bildet. Diese Suche nimmt immer „von einer im Lichte des relevanten Sprachgebrauchs bereits partiell semantisch interpretierten gesetzlichen Vorschrift ihren Ausgang“.127 Der relevante Sprachgebrauch entsteht durch den tatsächlich stattfindenden Diskurs der beteiligten Kreise. Beim Herstellerbegriff im Sinne des ProdSG sind die beteiligten Kreise zum einen der Verwender, der Arbeitnehmer, der Verbraucher, der Unternehmer und zum anderen die Marktüberwachungsbehörden. Die Adressaten der Gesetzgebung sind als Unternehmer und Behörden zwar größtenteils keine juristischen Laien, aber der Herstellerbegriff wird im Adressatenkreis der Unternehmer oftmals technisch verstanden. Dies liegt darin begründet, dass der Herstellerbegriff seiner Natur nach kein abstraktes juristisches Konzept darstellt, sondern einen Begriff, der alltäglich benutzt wird und bereits eine Bedeutung in der Laiensphäre besitzt. Demnach können die juristischen Wertungen hinter dem Begriff des „Herstellers“ nicht als gegeben vorausgesetzt werden.
Neben der Identifikation der einschlägigen Sprachgemeinschaft mit dem relevanten Sprachgebrauch sind semantische Erscheinungen wie Vagheit und Mehrdeutigkeit als Probleme zu beachten. Bei einer Mehrdeutigkeit kann eine Bezeichnung je nach Zusammenhang mehrere Bedeutungen aufweisen.128 Problematisch sind Situationen, in denen der Kontext den Begriff nicht konkretisiert: Wenn man sich eine Bank kauft, kann fraglich sein, ob damit das Geldinstitut oder die Sitzgelegenheit gemeint ist.129 Die Vagheit bezeichnet eine Unbestimmtheit. Ein Begriff ist vage, wenn es wenigstens ein Objekt130 aus dessen Grundbereich gibt, für den nicht feststellbar ist, ob er zur Extension (dem Bezeichneten) des Begriffs gehört. Dabei muss das Unvermögen aus dem Begriff und nicht aus subjektiven Gründen resultieren. Jedoch ist dies beim Herstellerbegriff nicht erkennbar: Er ist weder doppeldeutig noch als vage zu bezeichnen.
Folglich ist der Herstellerbegriff in semantischer Hinsicht zwar unproblematisch, aber es ergeben sich aufgrund seiner Wortbedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch Probleme, wenn rechtliche Fiktionen die Herstellereigenschaft begründen, zum Beispiel bei der Quasi-Herstellereigenschaft.131 Demnach lässt sich begrifflich nicht eindeutig identifizieren, welcher Wirtschaftsteilnehmer als Hersteller anzusehen ist, womit es sich beim Herstellerbegriff um einen neutralen Kandidaten handelt, welcher der Auslegung zugänglich ist.
4. Richtlinienkonforme Auslegung
Bei der Auslegung des Herstellerbegriffs ist zudem zu beachten, dass seit 1992 der Herstellerbegriff durch europäisches Recht maßgeblich geprägt wird: Der Herstellerbegriff geht zuletzt auf die Verordnung 765/2008/EU und den Beschluss 768/2008/EG zurück. Daher sind die Grundlagen des Europarechts bei der Auslegung des Herstellerbegriffs als zentrale Faktoren zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund ist eine rein nationale Perspektive bei der Auslegung des Herstellerbegriffs zu eng, da sie die europarechtlichen Implikationen und die Entstehungsgeschichte des Herstellerbegriffs vernachlässigen würde.132 Folglich ist vornehmlich eine europarechtskonforme Auslegung des Herstellerbegriffs vorzunehmen.
a) Verhältnis zwischen europarechtskonformer und nationaler Auslegung
Soweit nationale und europäische Rechtsakte nebeneinanderstehen, ist ihr Verhältnis zueinander für die Auslegung des Herstellerbegriffs bedeutend. Das europäische Recht könnte nämlich aufgrund seiner grundsätzlichen Vorrangwirkung das nationale Recht derart überlagern, dass lediglich eine Auslegung des Herstellerbegriffs anhand von europäischen Normen geboten sein könnte. Jedoch ist zu beachten, dass das europäische Recht nach seinen Rechtsetzungsnormen wie Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen zu unterscheiden ist, denen jeweils unterschiedliche Rechtskraftwirkungen zukommen. Dadurch ergeben sich folgerichtig Unterschiede in der jeweiligen Bedeutung des Rechtsakts bei der Auslegung des Herstellerbegriffs. Da im europäischen Produktsicherheitsrecht die Normen des New Legislative Frameworks von maßgeblicher Bedeutung sind,133 werden im Folgenden diese Normen auf ihre Art und Rechtskraftwirkung im Verhältnis zur nationalen Rechtsetzung untersucht.
aa) Musterbeschluss
Der Musterbeschluss des New Legislative Frameworks 768/2008/EG ist ein „Beschluss“ nach Art. 288 Abs. 4 AEUV. Ein solcher Beschluss ist nur für seine Adressaten in all seinen Teilen verbindlich. Er hat somit individuelle Geltung und wird in der Regel durch exekutivisches Handeln vollzogen, vor allem durch die Europäische Kommission. Der Adressat des Beschlusses 768/2008/EG ist die Europäische Kommission, wodurch der Musterbeschluss rechtlich keine verbindliche Wirkung für die EU-Mitgliedstaaten entfaltet.134 Dies ergibt sich bereits aus Erwägungsgrund 7 des Musterbeschlusses:
„Auch wenn nicht gesetzlich vorgeschrieben werden kann, die Bestimmungen dieses Beschlusses in künftige Rechtsakte zu übernehmen, sind die Mitgesetzgeber durch den Erlass dieses Beschlusses eine klare politische Verpflichtung eingegangen, die sie in Rechtsakten, die in den Geltungsbereich dieses Beschlusses fallen, einhalten sollten.“
Da der Musterbeschluss lediglich eine verwaltungsinterne Rechtswirkung auf europäischer Ebene entfaltet und für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht verbindlich ist, hat der Musterbeschluss bei der Auslegung des Herstellerbegriffs keine Vorrangwirkung gegenüber der nationalen Gesetzgebung.
bb) EU-Richtlinien
Bei der europarechtskonformen Auslegung sind die EU-Richtlinien von zentraler Bedeutung, die auf der Grundlage des Musterbeschlusses erlassen wurden. Damit ist in einem weiteren Schritt zu klären, wie das Verhältnis zwischen der richtlinienkonformen Auslegung und der Auslegung des nationalen Gesetzes ausgestaltet ist.
Eine Richtlinie ist nach Art. 288 Absatz 2 AEUV nur „für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich“. Ferner wird