Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Holger Dahl
sein darf und dem jeweiligen Gremium ausreichend Raum zur Stellungnahme und Einflussnahme zu gewähren ist. In der Regel ist auslösendes Ereignis des jeweiligen Beteiligungsrechts die getroffene unternehmerische Entscheidung zur Durchführung einer Maßnahme, d.h. die entsprechende Entscheidung muss unumgänglich sein. Solange sich ein Unternehmen noch in der Planungsphase befindet und einzelne Optionen durchspielt, werden in der Regel noch keine Beteiligungsrechte ausgelöst.
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An dieser Stelle treffen die gesetzlichen Vorgaben teilweise auf die tatsächliche praktische Umsetzung. Beispiele sind reine Informationsrechte, die dem jeweiligen Gremium kein Vetorecht einräumen, sodass letztlich auch keine richtige Einflussnahme möglich ist. So ist es beispielsweise gängige Praxis in Deutschland, den Wirtschaftsausschuss erst wenige Tage vor Unterzeichnung eines Gesellschafterkaufvertrags über den Kontrollwechsel zu informieren – auch wenn die Unterrichtung gemäß § 106 BetrVG „rechtzeitig“ zu erfolgen hat. Ob dem Wirtschaftsausschuss tatsächlich genügend Zeit zur Stellungnahme gewährt wird, kommt zwar auf den Einzelfall an, ist aber jedenfalls bei einer solchen Vorgehensweise fraglich.
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Der EuGH hat z.B. mit Blick auf die europäische Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) entschieden, dass die „Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter nach der europäischen Massenentlassungsrichtlinie mit dem Zeitpunkt des Erlasses einer Entscheidung über eine Restrukturierung des Betriebs entsteht, unabhängig davon, ob die Entscheidung durch den Betriebsinhaber oder eine übergeordnete Konzernleitung getroffen wird“.50 Die Konsultation muss spätestens zu dem Zeitpunkt abgeschlossen sein, zu dem der Betriebsinhaber die Arbeitsverträge der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer kündigt.51 Auch diese Vorgaben sind in der Praxis in den seltensten Fällen umsetzbar.
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Zu Problemen kann es in diesem Zusammenhang kommen, wenn z.B. die Konzernmutter und somit die Konzernleitung im Ausland sitzt und eine unternehmerische Entscheidung trifft, die beispielsweise eine deutsche Gesellschaft betrifft.
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Die deutsche Geschäftsführung erfährt nun im Nachgang von der unternehmerischen Entscheidung und muss je nach Maßnahme das jeweils zuständige Gremium beteiligen. Die insbesondere bei echten Mitbestimmungsrechten zugesprochene Einwirkungsmöglichkeit der Arbeitnehmervertretungen wird jedoch oftmals abgeschwächt, da die unternehmerische Entscheidung schon längst getroffen und unumkehrbar ist und die Maßnahme an sich nicht mehr vermeidbar ist. Das Mitbestimmungsrecht wird folglich auf die Umsetzungsmodalitäten der Maßnahme limitiert. Das wird jedoch in der Regel zu einer abgeschwächten Verhandlungsposition der deutschen Geschäftsführung führen. Das Gremium wird sich des Umstandes bewusst sein, dass Konzernmutter und Geschäftsführung des deutschen Unternehmens auf seine Kooperation angewiesen sind und es entsprechend höhere Forderungen zwecks Umsetzung des Vorhabens verlangen kann.
d) Folgen bei Missachtung der Beteiligungsrechte
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Die Missachtung von Beteiligungsrechten kann unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen: So drohen dem Unternehmen nicht nur Geldbußen oder die Verpflichtung zu Nachteilsausgleich, sondern die Missachtung von Beteiligungsrechten kann auch zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen bis hin zu einer kompletten Einstellung der Restrukturierungsmaßnahme führen. In einigen Jurisdiktionen, wie zum Beispiel in den Niederlanden52 und Frankreich, kann ein Verstoß zu einer zeitweisen Aussetzung der Maßnahmen führen. Die Maßnahme kann erst dann umgesetzt werden, wenn das Beteiligungsverfahren nachgeholt bzw. vollständig umgesetzt wurde. Teilweise können die Verzögerungen und die langanhaltenden Streitigkeiten mit den Arbeitnehmervertretungen derart Druck auf die Unternehmensleitung ausüben, dass es am Ende zum kompletten Aussetzen der Maßnahme kommt. Auch vor diesem Hintergrund zeigt sich erneut, dass eine frühzeitige Einbindung der Arbeitnehmer und der Arbeitnehmervertretungen zu einer Vermeidung von solchen Streitigkeiten führen kann.
4. Anzeigepflichtige Restrukturierungsmaßnahmen
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In der Regel müssen Restrukturierungsmaßnahmen den Behörden nicht angezeigt werden. Dennoch empfiehlt sich, bestehende nationale Anzeigeverpflichtungen frühzeitig zu prüfen (dies gilt insbesondere für Jurisdiktionen im asiatischen Raum). Eine Ausnahme besteht jedenfalls im europäischen Raum beim Personalabbau: Beabsichtigt ein Arbeitgeber in Betrieben innerhalb der EU Massenentlassungen durchzuführen, sind die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften über Massenentlassungen, die die europäische Massenentlassungsrichtline 98/59/EG („MERL“) umsetzen, zu beachten. Voraussetzung ist stets, dass der Arbeitgeber vor einer geplanten Massenentlassung Arbeitnehmervertreter konsultiert und die zuständige Behörde, in Deutschland die Agentur für Arbeit, von der geplanten Massenentlassung in Kenntnis setzt.53
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Auch außerhalb der EU können Massenentlassungen für den Arbeitgeber Pflichten auslösen. So enthält beispielsweise das chinesische54 Arbeitsrecht der MERL ähnliche Regelungen. Das argentinische55 und südafrikanische56 Arbeitsrecht sehen beispielsweise jeweils eine Beratungspflicht mit Gewerkschaften vor.
a) Voraussetzungen einer anzeigepflichtigen Entlassung
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Ausgangspunkt ist zunächst der Begriff der „Entlassung“. Da es sich hierbei um einen unionsrechtlichen Begriff handelt, ist dieser in der gesamten Gemeinschaft autonom, das heißt losgelöst von den nationalen Begrifflichkeiten, auszulegen.57 Nach dem EuGH ist Entlassung jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte Beendigung des Arbeitsvertrags, die ihren Grund nicht in seiner Person hat.58 Auch eine Eigenkündigung oder der Abschluss eines Aufhebungsvertrags soll eine Entlassung in diesem Sinne sein, wenn dies die Folge einer berechtigten einseitigen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber ist.59
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Hinsichtlich des Schwellenwertes, ab dem eine Massenentlassung vorliegt, lässt die MERL den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einen gewissen Spielraum.60 Hiervon haben die Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht. Während etwa Deutschland,61 Spanien,62 Irland63 und Österreich64 eine steigende Mindestanzahl an Arbeitnehmern im Betrieb voraussetzen und dann gestaffelt nach dieser Zahl eine weitere Mindestanzahl an Entlassungen verlangen, stellt zum Beispiel Großbritannien65 auf eine Mindestanzahl an Entlassungen innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen ab, ohne danach zu differenzieren, wie viele Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt sind.66 Frankreich nimmt eine weitere Differenzierung vor und sieht für verschiedene Schwellenwerte unterschiedliche Regimes von Massenentlassungen vor.67
b) Das einzuleitende Verfahren
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Sind die Schwellenwerte erreicht, hat der Arbeitgeber vor den Entlassungen das im jeweiligen nationalen Recht vorgesehene Verfahren einzuhalten.
aa) Konsultationspflichten
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Gemäß Art. 2 Abs. 1 MERL hat ein Arbeitgeber, der beabsichtigt, Massenentlassungen vorzunehmen, die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren Welche Arbeitnehmervertreter hiermit gemeint sind, ist in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt. In Deutschland ist der Betriebsrat zu konsultieren,68 in Großbritannien die Gewerkschaftsvertreter oder gewählten Arbeitnehmervertreter,69 in Österreich der Betriebsrat bzw., falls ein solcher nicht besteht, die betroffenen Arbeitnehmer selbst.70
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In welchem Umfang die Arbeitnehmervertreter zu unterrichten sind, ist in den nationalen Umsetzungsgesetzen in der Regel konkretisiert. Der Konsultationsprozess ist in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet. In Deutschland ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Betriebsrat Auskunft erteilen, ihn schriftlich