Kartellrechtliche Schadensersatzklagen. Fabian Stancke
immer Unsicherheiten bestehen, sollten die Parteien versuchen zu einer beide Seiten zufriedenstellenden Lösung zu gelangen. Gegebenenfalls können hierbei Mediations- oder Schiedsgerichtsverfahren helfen. Regelmäßig stand dem Abschluss eines Vergleichs entgegen, dass Kartellbeteiligte mit dem Vergleichsabschluss eine spätere Inanspruchnahme durch Mitkartellanten ausschließen wollen.80 Gemäß § 33f Abs. 1 Satz 1 und 2 GWB wird eine solche Regressmöglichkeit grundsätzlich gesetzlich ausgeschlossen.81 Geschädigte können auch weiterhin durch die Ausgestaltung des Vergleichs Einfluss auf den Innenregress nehmen.82 Grundsätzlich sollte möglichst frühzeitig in Vergleichsverhandlungen eingetreten werden. Die Lösung ist in diesem Stadium noch nicht mit Verfahrenskosten überfrachtet, gleiches gilt für Zinslasten. Ohne die behördliche Feststellung des Rechtsverstoßes werden sich Kartellbeteiligte jedoch nur selten auf Vergleichsgespräche einlassen. Für den Geschädigten kann es sich lohnen, finanzielle Anreize für den ersten Vergleichsabschluss anzubieten, der immer auch eine Signalwirkung gegenüber den anderen Kartellbeteiligten hat. Letztendlich zeigt sich aber bereits jetzt, dass die 9. GWB-Novelle nicht zu einer Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen öffentlicher und privater Kartellrechtsdurchsetzung führen wird und es weiterer Anreize zur Förderung von Vergleichen bedarf. Der Gesetzgeber geht mit der 10. GWB-Novelle zumindest einen Schritt in die richtige Richtung. Im neuen § 81d Abs. 1 Nr. 5 GWB wurde explizit der Hinweis aufgenommen, dass sich das Bemühen um Schadensausgleich bußgeldmindernd auswirken kann.83 Z.B. in Österreich, Slowenien, Portugal und Schweden gibt es bereits ähnliche Regelungen. Die schweizer WEKO hat in ihrer Verfügung vom 19.8.2019 betreffend Bauleistungen in Graubünden 50 % der geleisteten Schadensersatzzahlungen vom Bußgeldbetrag abgezogen.84 Sie begründet dies wie folgt: „Werden Geschädigte vor der Sanktionsentscheidung entschädigt, so wird hierdurch der Gewinn des Kartellanten geschmälert, womit im Hinblick auf den Zweck der Gewinnabschöpfung eine Reduktion [...] tatangemessen erscheinen kann. Die Möglichkeit der Sanktionsreduktion infolge Kompensationsleistungen stellt einen wichtigen Anreiz dar, Kartellopfer zu entschädigen. Es trägt dazu bei, die (mutmaßliche) Kartellrente oder Teile davon den Kartellopfern zukommen zu lassen.“85 Allerdings wird die neue Regelung insofern nur solche Schadensersatzzahlungen erfassen können, die vor dem Abschluss des Bußgeldverfahrens geleistet worden sind. Vergleiche vor Abschluss des Bußgeldverfahrens sind jedoch erfahrungsgemäß sehr selten. Es liegt daher am Gesetzgeber eine Regelung zu schaffen die Schadensersatzzahlungen tatsächlich vor der Verhängung von Bußgeldern ermöglicht.86 Denkbar wäre hier das Bußgeldverfahren fakultativ zweistufig auszugestalten.87 Auf Wunsch der Kartellbeteiligten könnte das Bundeskartellamt in einem Zwischenbescheid den Kartellrechtsverstoß dem Grunde nach feststellen. Nach einem Übergangszeitraum zur Förderung der einvernehmlichen Streitbeilegung mit den Kartellgeschädigten könnte das Bundeskartellamt dann gegenüber den Kartellbeteiligten mit einem zweiten Bescheid das Bußgeld festsetzen, wobei sich privatrechtlich abgeschlossene Vergleiche bußgeldmildernd auswirken müssten.
2. Auswahl des Beklagten
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Der Geschädigte kann entweder alle Kartellbeteiligten gesamtschuldnerisch jeweils in voller Höhe des entstandenen Schadens in Anspruch nehmen.88 Er kann aber auch nur einen Kartellbeteiligten verklagen und dadurch das Kostenrisiko im Unterliegensfall sowie die Verfahrenskomplexität und -dauer begrenzen.89 Bei hohen Schadensersatzforderungen lässt sich das Insolvenzrisiko durch die Inanspruchnahme mehrerer Kartellbeteiligter reduzieren. Es ist zu beachten, dass hierdurch möglicherweise das Prozesskostenerstattungsrisiko erhöht wird. Ferner kann auch direkt gegen die Muttergesellschaften vorgegangen werden. Das gilt nicht nur wenn die Kartellbehörde einen eigenen oder der Muttergesellschaft zugerechneten Kartellverstoß festgestellt hat.90 Zu dieser Frage, ob auch im Kartelldeliktsrecht der unionsrechtliche Unternehmensbegriff Anwendung findet und Muttergesellschaften für Kartellverstöße ihrer Tochtergesellschaften haften, wurde im Zusammenhang mit der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie ausführlich gestritten.91 § 33a Abs. 1 GWB nimmt keinen ausdrücklichen Bezug auf dieses Konzept und überließ die Klärung letztendlich den Gerichten.92 Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Skanska nun festgestellt, dass im Kartellzivilrecht derselbe unionsrechtliche Unternehmensbegriff wie im Kartellbußgeldrecht gilt.93 Deshalb haftet auch die Mutter für ihre am Kartell beteiligte Tochter, wenn beide eine wirtschaftliche Einheit bilden.94
3. Auswahl des Gerichtsstands
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Liegen die Voraussetzungen für eine gerichtliche Zuständigkeit in mehreren Mitgliedstaaten vor, sollte sorgfältig und einzelfallbezogen geprüft werden, wo eine Klageerhebung am sinnvollsten wäre.95
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Gemäß Art. 4 EuGVVO kommt bei Kartellgeschädigten mit Sitz in Deutschland eine Klage in einem anderen Mitgliedstaat im Wesentlichen dann in Betracht, wenn ein Kartellbeteiligter seinen Sitz im Ausland hat. Zudem genügt es, wenn der Handlungs- oder Erfolgsort in einem anderen Mitgliedstaat liegt.96 Die örtliche Zuständigkeit dürfte auch dort begründet sein, wo die mithaftende Muttergesellschaft ansässig ist und auch eine Begründung der Zuständigkeit am Sitz der Tochter- oder Schwestergesellschaften scheint möglich.97 Ist ein Gericht im Ausland örtlich zuständig, können die anderen Kartellbeteiligten gemäß Art. 8 Nr. 1 EuGVVO dort mitverklagt werden.
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Bei der Auswahl des Gerichtsstands spielt neben den Kosten(-risiken) die Verfahrensdauer und die Expertise des Gerichts in der Spezialmaterie Kartellschadensersatz eine wichtige Rolle. Ferner waren in der Vergangenheit die unterschiedlichen Vorschriften zu Verjährung und Offenlegung stets von Relevanz. Hier werden auch mit der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie Unterschiede bestehen bleiben.
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Grundsätzlich haben sich Deutschland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich als Foren für Kartellschadensersatzklagen in Europa etabliert.98 Wie sich der sog. „Brexit“ auf die Stellung des Vereinigten Königreichs auswirken wird,99 bleibt abzuwarten.
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Noch ist unklar ob nach der Übergangsfrist, in der das Withdrawal Agreement100 die Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur EU regelt, ein Handelsabkommen in Kraft treten wird und wie dessen Regeln ausgestaltet sein werden. Das Withdrawal Agreement sieht im Grundsatz vor, dass das Unionsrecht auch während einer Übergangsphase in Kraft bleibt. Die Brüssel I Recast Verordnung101 findet, insbesondere mit ihren Zuständigkeitsregeln die z.B. auch das Vorgehen bei Parallelverfahren regeln, weiterhin auf Verfahren Anwendung, die vor dem Ende des Übergangszeitraums eingeleitet wurden.102 Zudem bleiben die Rom I-Verordnung103 und die Rom II-Verordnung104 sowie das Lugano-Abkommen 2007,105 das im Verhältnis zwischen EU-Mitgliedstaaten und den EFTA-Staaten gilt, anwendbar. Die Europäische Kommission bleibt in diesem Zeitraum auch zuständig für die Durchsetzung des Unionsrechts im Vereinigten Königreich und darüber hinaus für bereits anhängige Verfahren.106 Während des Übergangszeitraums bleibt der EuGH für alle neuen und laufenden Verfahren zuständig, für anhängige Verfahren auch nach dem Ende des Übergangszeitraums.107 Zumindest hat das Vereinigte Königreich im April 2020 die Aufnahme zum Lugano-Abkommen 2007 beantragt, doch es bleibt abzuwarten ob die Europäische Union neben den EFTA Staaten auch ihre Zustimmung erteilen wird.
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Sollte die Übergangsphase ohne ein Abkommen enden, gilt Folgendes: Für bereits laufende Gerichtsverfahren im Vereinigten Königreich sollte sich auch ohne Abkommen nichts ändern. Die Gerichte werden auf der Grundlage des Withdrawal Agreements die prozessualen Regeln über die gerichtlichen Zuständigkeiten und zur Vollstreckung anwenden, wie sie zum Zeitpunkt der Klageerhebung (d.h. vor dem Brexit bzw. während des Übergangszeitraums) galten.108 Dies gebieten neben rechtlichen auch praktische Erwägungen, da die andernfalls eintretende Unsicherheit dazu führen dürfte, dass die Justiz im Vereinigten Königreich de facto handlungsunfähig würde. Für neue Klagen auf Kartellschadensersatz nach Ende des Übergangszeitraums ohne Abkommen gilt hingegen, dass die nach dem Übergangszeitraum erlassenen Entscheidungen der Europäischen Kommission keine Bindungswirkung mehr entfalten.109 Unionsrecht