Kartellrechtliche Schadensersatzklagen. Fabian Stancke
(„Class Actions“) von Kartellgeschädigten zur Anspruchsdurchsetzung genutzt.126 Dort machen bei sog. Opt-out-Klagen einzelne Geschädigte die Ansprüche im Namen aller geltend, solange diese nicht ausdrücklich aus dem Kollektiv austreten.127 Zunächst muss in der Regel die Zertifizierung der Sammelklägergruppe beantragt werden. Erst wenn eine sog. „Class“ zertifiziert ist, kann der Fall weitergeführt werden. Die Zertifizierungsanforderungen unterscheiden sich je nach Gerichtsbarkeit. Im Vereinigten Königreich hingegen ist das Sammelklagesystem gerade erst im Entstehen begriffen. Auch dort gibt es ein Zertifizierungssystem für Klägergruppen. Über die Auslegung der Zertifizierungskriterien herrscht im Detail noch Unsicherheit. Hinweise zur Auslegung werden durch eine erste Entscheidung des Obersten Gerichtshof zu diesen Kriterien in der Rechtssache Merricks v. MasterCard erwartet.128 Nach Abschluss eines Vergleichs mit einem Beklagten, werden die Gruppenmitglieder über den Vergleich informiert und erhalten die Möglichkeit, zu dem Vergleich vor Gericht gehört zu werden. Die Mitglieder der Sammelklägergruppe werden dann regelmäßig aufgefordert, ihr Einkaufsvolumen des kartellierten Produkts oder der kartellierten Dienstleistung zu quantifizieren und einem Anspruchsverwalter zu melden, der dann den Anteil jedes Mitglieds der Sammelklägergruppe an den Erlösen berechnet und verteilt. In einigen Rechtsordnungen ist es zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich noch möglich jeweils für einen Einzelvergleich ein Opt-out zu erklären. Die Geschädigten trifft kein Kostenrisiko. Dieses wird in der Regel auf die tätigen Anwaltskanzleien (z.B. durch die Vereinbarung von Erfolgshonoraren) abgewälzt oder von Prozessfinanzierern getragen. In Deutschland sind Erfolgshonorare gemäß § 49b Abs. 2 Satz 1 BRAO, § 4a Abs. 1 RVG nur in Ausnahmefällen zulässig. Gruppen- oder Sammelklagen kennen neben dem angelsächsischen Raum inzwischen auch viele andere Europäische Rechtsordnungen. Im deutschen Zivilprozessrecht gibt es für Verbraucher nur die Musterfeststellungsklage nach § 606 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.129 Diese mag zwar Verbrauchern die Geltendmachung von Kartellschadensersatzansprüchen potenziell erleichtern,130 kartellgeschädigten Unternehmen steht die Aufnahme zu Musterfeststellungsverfahren aber nicht offen.131
c) Abtretung
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Daneben kommt eine Bündelung der Ansprüche bei einem Geschädigten oder einem Klagevehikel durch Abtretungen in Betracht.132 Die Vorteile einer derartigen Vorgehensweise sind vielschichtig:133 Durch das Mehr an Vertragsbeziehungen wird die Datenbasis verbreitert, was die Schätzung des kartellbedingten Schadens und damit die Substantiierung des Anspruchs erleichtert. Zudem vergrößert das Innehaben einer größeren Zahl an Ansprüchen (critical mass) die Vergleichsbereitschaft der Gegenseite. Ferner liegt dem Gebührenrecht eine Kostendegression zugrunde, so dass ein höherer Streitwert im Vergleich mit der singulären Durchsetzung in mehreren Prozessen günstiger ist. Aber auch aus Sicht der Justiz und der Gegenseite ist die gebündelte Verfolgung der Ansprüche positiv zu bewerten. Es ist nur eine Beweisaufnahme erforderlich, und die Beklagten sind im Falle ihres Unterliegens nur einem Kläger gegenüber ersatzpflichtig.134 Diese Vorteile erkennt auch ein Teil der Rechtsprechung an.135 Zudem steht die Europäische Union einer kollektiven Rechtsdurchsetzung grundsätzlich ebenfalls positiv gegenüber.136 Rechtspolitisch erscheint dies auch wünschenswert.137
aa) Rechtlicher Rahmen
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In Deutschland wird eine gebündelte Geltendmachung von abgetretenen Ansprüchen durch Dritte in der Regel als Inkassodienstleistung anzusehen sein.138 Da es sich bei solchen Abtretungen jeweils um eine Inkassozession handelt, bedarf der Zessionar im Zeitpunkt der Abtretung einer Registrierung gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 RDG. Der BGH hat (wenn auch in einem Fall, der nur die Geltendmachung abgetretener, nicht aber gebündelter Ansprüche betraf) inzwischen klargestellt, dass der Begriff der Inkassodienstleistung weit auszulegen ist, wobei stets anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen ist, ob die Grenzen der Inkassobefugnis eingehalten wurden.139 Zudem hat der BGH noch einmal an die Rechtsprechung des BVerfG erinnert, nach der Inkassodienstleistern umfassende Befugnisse bei der Forderungsdurchsetzung zustehen.140 Ebenso hat er bestätigt, dass die Vereinbarung einer erfolgsabhängigen Vergütung für Inkassodienstleister entgegen wiederholt in der Literatur geltend gemachten Bedenken keinen grundsätzlichen Bedenken, etwa aufgrund möglicher Interessenkonflikte zwischen Inkassodienstleister und Kunden, begegnet.141 Das LG Braunschweig hat in einer Entscheidung aus dem April 2020 diese Rechtsprechung auch für die Bündelung von Ansprüchen durch Abtretung an Klagevehikel und die anschließende (gerichtliche) Geltendmachung der abgetretenen Ansprüche durch das Klagevehikel als anwendbar angesehen und dabei explizit einer anders lautenden, kurz zuvor ergangenen Entscheidung des LG München I widersprochen.142 Im zu entscheidenden Fall hatte das LG Braunschweig letztendlich aber dennoch einen RDG-Verstoß angenommen, da die Erbringung von Rechtsdienstleistungen im ausländischen – Schweizer – Recht durch die Klägerin zu einem Wertungswiderspruch führe, der in der Annahme der Überschreitung der Dienstleistungsbefugnis münde.143 Das LG München I hat im Februar 2020 entschieden,144 dass die gebündelte Geltendmachung von Ansprüchen aus dem LKW-Kartell von über 3.000 Geschädigten, die ihre Ansprüche an ein als Inkassodienstleister registriertes Klagevehikel abgetreten hatten, finanziert durch einen externen Prozessfinanzierer, nicht mit dem RDG vereinbar sei.145 Dabei verwies das Gericht auf vermeintlich fehlende Befugnisse des Inkassodienstleisters zur – vom Gericht unterstellt: ausschließlich intendierten – gerichtlichen Geltendmachung der Ansprüche sowie auf vermeintliche Interessenkonflikte, sowohl mit Blick auf die angeblich jeweils unterschiedlichen Interessen der einzelnen Zedenten als auch bezüglich der angeblich divergierenden Interessen von Zedenten und Prozessfinanzierer, denen der Inkassodienstleister nicht beiden gerecht werden könne.146 In der Zwischenzeit hat auch das LG Hannover die Zulässigkeit der Anspruchsbündelung in einem Verfahren zum Zuckerkartell verneint,147 und das LG Ingolstadt verneinte die Zulässigkeit der Anspruchsbündelung in einem konkreten Fall zum Dieselskandal aufgrund einer erweiternden Auslegung bzw. analogen Anwendung von § 4 RDG.148 Es ist fraglich, ob diese Auffassung in nachfolgenden Instanzen Bestand haben wird. Der BGH hat in einem aktuellen Urteil über einen Fall entschieden, bei dem Kartellschadenersatzansprüche zweier Marktstufen in einer Hand gebündelt worden waren und die Zulässigkeit der Bündelung nach dem RDG gar nicht problematisiert.149 Nicht nur in der Rechtsprechung des LG Braunschweig, sondern auch in der Literatur hat insbesondere das Urteil des LG München I bereits Kritik erfahren.150 So begegnet schon die Annahme Zweifeln, dass Inkassodienstleister ihre Befugnisse überschreiten, wenn sie eine gerichtliche Forderungsdurchsetzung anstreben. § 79 Abs. 2 Satz 1 ZPO trifft Regelungen für die gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen durch Inkassodienstleister und ordnet an, dass ein Rechtsanwalt mit der Vertretung zu beauftragen ist.151 Zudem wäre – bei absehbarer Zahlungsunwilligkeit des Schuldners – der Inkassodienstleister, um den Ansprüchen des LG München I zu genügen, gezwungen, wirtschaftlich erwartbar sinnlose vorgerichtliche Maßnahmen zu treffen, was auf eine „reine Förmelei“152 hinausliefe. Dass die Interessen der Zedenten untereinander divergierten, da bei einem Vergleich „schlechte Ansprüche“ zulasten der „guten Ansprüche“ bevorzugt würden, behauptet einen Interessenkonflikt, der voraussetzen würde, dass sich ein Inkassodienstleister grundsätzlich vertragsbrüchig verhielte und bei Vergleichsverhandlungen völlig undifferenziert vorgehe.153 Insgesamt sieht das LG München I für seine Bewertung die Umstände des konkreten Einzelfalls als entscheidend an: gerade wenn – wie im entschiedenen Fall – die positive Entscheidung über einen Vergleichsschluss nur voraussetze, dass eine ausgehandelte Vergleichssumme unter kaufmännischen Gesichtspunkten als aus Sicht des Inkassodienstleisters insgesamt ausreichend erscheine, sei eine quotale und unabhängig von den individuellen Erfolgsaussichten erfolgende Auszahlung an die Zedenten kritisch.154 Bei anders gelagerten Fällen können diese Bedenken wohl ausgeräumt werden, z.B. indem individuelle Kriterien für die Höhe der auf die einzelnen Zedenten entfallende Zahlung definiert würden.155 Zur Vermeidung der Einordnung der Abtretung als sittenwidrig gem. § 138 BGB156 ist erforderlich, dass es die finanzielle Ausstattung des Zessionars im Zeitpunkt der Abtretung erlaubt, im Falle des Unterliegens den Beklagten die zu erstattenden Anwaltskosten und die Gerichtskosten über drei Instanzen zu tragen, nicht aber die Erstattungsansprüche der Streitverkündeten.
bb) Praktische