Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
Die polizeiliche Zwangsanwendung geht in ihrer Wirkung über den Eingriffsgehalt der Grundmaßnahme regelmäßig hinaus. Dabei wird in der „mildesten Form“ nur die Handlungsfreiheit des Betroffenen weiter eingeschränkt, als es bei Erfüllung der polizeilichen Forderung der Fall gewesen wäre. Zwang ist mithin eine Rechtsfolgengestaltung, die über die Rechtsfolgen der Grundmaßnahme hinausgeht und von ihr nicht erfasst wird. Die Maßnahme stellt sich als Verwaltungszwang dar, denn die Beamten gehen gegen den Z mit körperlicher Gewalt vor (unmittelbarer Zwang in Form der körperlichen Gewalt; vgl. § 58 Abs. 1, Abs. 2 PolG NRW).
II. Formelle Rechtmäßigkeit
Es ist von einer gefahrenabwehrenden Zielsetzung auszugehen; strafverfolgende Aspekte sind nicht ersichtlich. Mit der Maßnahme soll die Ingewahrsamnahme (§ 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW) durchgesetzt werden.
III. Materielle Rechtmäßigkeit
Zu prüfen ist § 50 Abs. 1 PolG NRW (Zwangsanwendung durch Durchsetzung eines erlassenen Verwaltungsaktes; sog. gestrecktes Verfahren).
1. Zulässigkeit des Zwangs (§ 50 Abs. 1 PolG NRW)
Gem. § 50 Abs. 1 PolG NRW kann ein Verwaltungsakt, der auf die Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden, wenn er unanfechtbar ist oder wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Der nach § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehene Suspensiveffekt (§ 80 Abs. 1 VwGO) entfällt nach § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, wenn es sich um unaufschiebbare Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten handelt. Es handelt sich hier um eine unaufschiebbare Maßnahme zur Gefahrenabwehr, sie ist sofort vollziehbar, da gem. § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung förmlicher Rechtsbehelfe entfällt. Die Voraussetzungen des sog. gestreckten Zwangsverfahrens nach § 50 Abs. 1 PolG NRW liegen vor.
2. Zulässigkeit des Zwangsmittels
In Betracht kommt vorliegend der unmittelbare Zwang (§ 55 PolG NRW). Die Voraussetzungen der (Vollstreckungs-)Ermächtigung (§ 55 PolG NRW) liegen vor. Die Polizei durfte somit das Zwangsmittel des unmittelbaren Zwanges anwenden. Nach § 55 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW gelten für die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges die §§ 57 ff. PolG NRW. Ist die Polizei nach diesem Gesetz (PolG NRW) oder anderen Rechtsvorschriften zur Anwendung unmittelbaren Zwanges befugt, gelten für die Art und Weise der Anwendung die §§ 58 bis 66 und, soweit sich aus diesen nichts Abweichendes ergibt, die übrigen Vorschriften dieses Gesetzes (§ 57 Abs. 1 PolG NRW).
3. Art und Weise des (Verwaltungs-)Zwanges
Mangels entsprechender Hinweise im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass alle Verfahrensvorschriften beachtet wurden, und zwar insbesondere hinsichtlich der Androhung des unmittelbaren Zwanges (§§ 51 Abs. 2, 56 Abs. 1, 61 Abs. 1 PolG NRW).
4. Allgemeine Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
An der objektiven Zwecktauglichkeit der (Zwangs-)Maßnahme bestehen keine Zweifel, sie ist somit geeignet. Auch hinsichtlich der Erforderlichkeit bestehen keine Bedenken. Eine Verfügung wurde nicht befolgt. Die Zwangsanwendung war fraglos auch verhältnismäßig, denn die geringe Zwangsanwendung auf den Betroffenen (Z) steht in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck der Maßnahme. Die zwangsweise Durchsetzung der Gewahrsamnahme war rechtmäßig.
1 Braun StaatsR, S. 79; Braun PSP 3/2017, 37 (38); Schenke POR, Rn. 132. — 2 Tegtmeyer/Vahle PolG NRW; § 34, Rn. 1; Kay/Böcking PolR NRW, Rn. 234. — 3 Petersen-Thrö apf 2008, 370 (371). — 4 Braun StaatsR, S. 61. — 5 Statt vieler: Merten DPolBl. 3/2003, 2. — 6 Vertiefend: Beaucamp JA 2009, 279 ff. — 7 Omnibusse des Linienverkehrs fallen unter die zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmten Räume i. S. des § 123 Abs. 1 StGB, Hartmann, in: DDKR, § 123 StGB Rn. 11. — 8 Chemnitz PolR NRW, § 4 Rn. 8.3.1 (Unmittelbarkeitstheorie). — 9 DWVM Gefahrenabwehr, S. 392. — 10 Im Überblick zum Zwang Wälter, Prüfungsschema: Rechtmäßigkeit der zwangsweisen Durchsetzung einer polizeilichen Maßnahme, Beilage PSP 4/2019. — 11 Der sofortige Vollzug darf nicht mit der sog. sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) verwechselt werden. Die sofortige Vollziehung setzt immer einen bereits erlassenen Verwaltungsakt voraus. Die Anordnung erfolgt in diesen Fällen, damit Rechtsbehelfe und Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung haben; ergänzend: Sadler Die Polizei 2005, 185. — 12 von Blohn/Schucht POR, S. 31. — 13 Haurand POR, S. 161. — 14 Vertiefend: Vahle Kriminalistik 1994, 360 ff. — 15 Näher dazu Gusy PolR, Rn. 436 ff. — 16 Buschmann/Schiller NWVBl. 2007, 249 (251). — 17 Schmitt/Kammler NRWVBl. 1995, 166. — 18 WHM POR NRW, Rn. 195. — 19 Gusy PolR, Rn. 183. — 20 Ausführlich: Brühl JuS 1997, 926 ff.; 1021 ff. und JuS 1998, 65 ff. — 21 Knemeyer POR, Rn. 277 ff. — 22 Tetsch ER Bd. 2, S. 267 ff. — 23 Kay/Böcking PolR NRW, Rn. 359. — 24 Gornig/Jahn PolR, S. 76 (80)., m. w. N. — 25 Erbguth apf 2008, 106 (108). — 26 BVerwG NJW 1984, 2591; BVerfG NVwZ 1999, 291. — 27 Koehl Polizei-heute 2008, 168 (173): So kann z. B. die Auflösung einer Versammlung (und die Entfernungspflicht der Versammlungsteilnehmer) erst nachträglich auf ihre Rechtswidrigkeit hin untersucht werden. Ein Widersetzen der Teilnehmer – gerade bei einer rechtswidrigen Auflösungsverfügung – macht den Einsatz polizeilicher Zwangsmittel nicht grundsätzlich unzulässig (BVerfG, NVwZ 1999, 291). — 28 BVerfG NVwZ 1999, 290 (292). — 29 Vertiefend: P-TRE PolR Sachsen, S. 211 f. — 30 Am 1. 11. 2007 ist in Nordrhein-Westfalen das sog. Bürokratieabbaugesetz II in Kraft getreten. Es soll den Bürgerinnen und Bürgern schneller