Das Biest in Dir. Felix Hänisch

Das Biest in Dir - Felix Hänisch


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Weiterreise war im Nachhinein gesehen ziemlich ereignislos gewesen, obwohl Darius an jedem einzelnen Tag mehr von der Welt zu sehen bekommen hatte als sonst im Laufe eines ganzen Mondes.

      Nach einem weiteren Tagesritt auf dem Rücken ihrer Pferde, hatten sie das Dickicht des Waldes hinter sich gelassen. Die Straße, welcher sie seit dem Verlassen des Dorfes gefolgt waren und die sich noch ein wenig verbreitert hatte, sodass sie nun bequem nebeneinanderher reiten konnten, erstreckte sich, sehr zu Darius’ Überraschung, noch immer ungekrümmt vor ihnen. Links und rechts des platt getretenen Weges waren die Ebenen und sanften Hügel von Getreidefeldern bedeckt, so weit das Auge reichte. Noch waren die grünen Halme, die nur wenige Fingerbreit aus dem Boden ragten, kaum von Gras zu unterscheiden. Doch schon bald würden sie zu prächtigen, goldfarbenen Ähren heranwachsen, die, wie Aaron ihm erklärt hatte, einen großen Teil vom Süden Epsors mit Brot versorgen konnten.

      Als sie schließlich am letzten Tag ihrer Reise in aller Frühe einen der vielen sanften Hügelkämme passierten, konnte Darius in der Ferne eine gewaltige Festung erspähen, welche Aaron ihm, auf seine Frage hin, als Das Auge des Westens, benannte. Die Sonne war gerade aufgegangen und ließ die östlichen Mauern der Burg in feurigem Rot erstrahlen. Zeitgleich hielten die Schatten der Morgendämmerung den westlichen Teil noch immer fest in ihren dunklen Fängen.

      Wenige Stunden später, während derer Darius zunehmend in Tagträumereien, um das imposante Bauwerk und die Schlachten, welche es schon darum gegeben haben mochte, versunken war, erreichten sie in lockerem Trab die Küste.

      Ein langer, wenn auch schmaler Sandstrand, der zum Wasser hin an den meisten Stellen von schroffen Felsen eingegrenzt wurde, erstreckte sich nach beiden Seiten, so weit man blicken konnte. Hinter einem kleinen Anstieg waren die maroden Dächer einer nahe gelegenen Stadt zu erkennen und die mannshohen Dünen, auf denen spärliche Farne wuchsen, schwächten den rauen, salzigen Wind der See kaum spürbar ab. Mit einem Lächeln nahmen Aaron und Ramir zur Kenntnis, wie sich Darius’ Augen vor Erstaunen weiteten, als er das erste Mal in seinem Leben auf das weite Meer hinaus blickte.

      »Ich habe ja schon davon gehört«, sagte er mit faszinierter Stimme und schien den Blick gar nicht mehr abwenden zu können, »aber das es wirklich so weit ist, dass man das andere Ufer nicht sehen kann, habe ich nie richtig geglaubt.«

      »Da gibt es auch kein anderes Ufer«, schnarrte Ramir überzeugt und klang dabei wie immer ein wenig herablassend. »Wir befinden uns fast am südlichsten Ende von Epsor. Nur diese Insel liegt noch dahinter – die wichtigste für jeden Iatas.« Nicht ohne Stolz deutete er auf den einzig deutlich sichtbaren Landstrich, der sich wie zum Trotz aus der grauen See zu erheben schien.

      »Sollte ich davon schon einmal gehört haben?«, fragte Darius unsicher. Aaron kam ihm jedoch gleich zu Hilfe und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die langgezogene Küstelinie, deren nordöstliches Ende noch von den Dünen verdeckt wurde, wodurch sie wie eine weit ins Meer ragende Landzunge wirkte.

      »Siehst du diese Erhebung dort in der Mitte?«

      Darius nickte beim Anblick des einzigen Bauwerkes, das auf dem im Wasser liegenden Landstrich vom Strand aus zu erkennen war.

      »Das ist Baknakaï, Hauptsitz der Iatas und unser Ziel.« Auch Aarons Stimme erfüllte sich merklich mit Stolz als er auf die Festung deutete, von der Darius aus der Entfernung mit viel Anstrengung sogar die Zinnen zu erkennen glaubte.

      »Die Welt reicht nur so weit, wie du bei gutem Wetter vom höchsten Turm aus aufs Meer sehen kannst«, meinte Ramir weise.

      »Und was kommt dahinter?«, wollte Darius zynisch wissen, da er sich nicht vorstellen konnte, dass die Welt auf der anderen Seite dieses ominösen Gewässers zu Ende sein sollte.

      »Fahr doch hin und finde es heraus!«

      »Beruhigt euch«, bemühte Aaron sich, wie so oft in den vergangenen Tagen, den aufkommenden Streit der beiden zu schlichten. »Es konnte noch keiner beweisen, dass die Welt hinter dem Horizont des Meeres zu Ende ist. Es hat allerdings auch nie jemand eine neue Küste entdeckt.«

      »Immerhin ist ja auch noch keiner zurückgekommen«, murmelte Ramir kaum verständlich, verstummte jedoch unter dem strafenden Blick seines Meisters. Einige Augenblicke lang verweilten die drei noch auf den Rücken ihrer Pferde, deren Hufe bereits ein Stück weit in dem grobkörnigen Sand versunken waren. Vor allem Darius sah ehrfürchtig hinab auf die mit Abstand gewaltigste Menge an Wasser, die er je erblickt hatte.

      An vielen Stellen, wo die See noch vergleichsweise seicht war, ragten Riffe wie die gigantischen Finger urzeitlicher Riesen aus dem Meer. Die Wellen, welche die restliche Wasseroberfläche um nicht viel mehr als eine halbe Manneslänge überragten, schienen sich mit enormer Kraft an dem Gestein zu brechen. Auf Aarons Zeichen hin gaben sie ihren Tieren schließlich sanft die Sporen und ritten gemächlich den Küstenstreifen entlang.

      »Noch ein kleines Stück, dann erreichen wir einen Steg, von dem aus wir mit einer Fähre übersetzen können!«, rief Aaron, auf Darius’ fragenden Blick hin, gegen die aufkommende Meeresbrise an, die unnachgiebig an ihren Kleidern zerrte. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis der Strand eine sanfte Biegung machte, hinter der ein Ruderboot mit starken Tauen an einem Holzweg befestigt war, welcher gut zwanzig Mannslängen weit ins Meer hinaus führte.

      »Und darin sollen wir rüber?«, fragte Darius zweifelnd.

      »Wir und die Pferde«, bestätigte Ramir anstelle seines Meisters mit einem Kopfnicken. »Entweder, du vertraust deinem Pferd, dass es dich auf der schwankenden Fahrt nicht über Bord stößt oder du kannst gut schwimmen«, fügte er hämisch hinzu.

      »Auf mich trifft beides zu«, entgegnete Darius schlagfertig und warf sich in die Brust. Tatsache war jedoch, dass er, wie die meisten im Dorf, kein eigenes Pferd besaß. Je nachdem wie ertragreich die Beutezüge und wie hart die Winter waren, verfügte ihre Gemeinschaft stets über eine mehr oder minder hohe Zahl an Reittieren, die jedoch ständig wechselten. Die Stute, welche ihn in den letzten Tagen auf ihrem Rücken getragen hatte, war wohl schon zu Zeiten seiner Geburt zugeritten worden. Obwohl sie von gutmütiger Natur war und ihm bisher noch keine Schwierigkeiten gemacht hatte, legte der junge Dieb keinen großen Wert darauf, sein Glück weiter auszutesten.

      Das Schwimmen beherrschte er zwar, doch viel mehr als sich im nahe gelegenen Bach seines Dorfes hangabwärts treiben zu lassen, hatte Darius noch nicht geleistet. Die Wellen des Ozeans und die schiere Entfernung zu der Insel schienen somit einem sicheren Todesurteil gleichzukommen. Halb überlegte er, sein Pferd abzusatteln und es sich selbst zu überlassen. Gemeinsam mit Ryu hatte er so etwas schon oft getan und sich dann hinterher ein besseres besorgt. Aber er konnte nicht wissen, ob er auf der Insel ein neues Tier bekommen würde. Außerdem wollte er sich vor Aaron und besonders vor dem gehässigen Ramir, nicht die Blöße der Feigheit geben. So stieg Darius, genau wie seine beiden Begleiter, mit einem sicheren Sprung in den weichen Sand ab und führte sein Tier an den Zügeln zu dem schmalen Steg. Als Aaron und Ramir ihre Rösser jedoch an den Stützbalken des Piers anbanden, begriff er, dass der angehende Iatas ihn einmal mehr vorgeführt hatte.

      »Als ob du ein Pferd in so eine Nussschale bekommen würdest«, murmelte dieser belustigt, als er merkte, dass Darius ihm geglaubt hatte, und deutete hinüber auf die Fähre. Dort schienen bereits sechs Männer in einfacher, wenn auch sauberer Bauernkleidung auf sie zu warten. Gelangweilt saßen sie gegen die Holzpflöcke gelehnt, welche im Meeresboden verankert waren und die morschen Bretter beieinander hielten. Ihre desinteressierte Körperhaltung und die Tatsache, dass sich gerade einmal die Hälfte von ihnen erhob, nachdem Aaron an sie herangetreten war, ließ Darius vermuten, dass sie den ganzen Tag über nichts anderes taten, als Gäste auf die Insel und wieder zurückzufahren.

      Nachdem der Iatas-Meister ein kurzes Gespräch mit einem der Seemänner geführt hatte, bei dem er kurz nacheinander auf Darius, Ramir und sich selbst gedeutet hatte, nickte dieser schließlich zustimmend. Der Älteste von ihnen, dessen langer, roter Schnauzbart ihm bis weit über die Oberlippe wuchs und der mehrere schlecht verheilte Narben auf den Handrücken aufweisen konnte, winkte einen nach dem anderen an Bord des Kahns, der unter jedem einzelnen Tritt bedrohlich zu schwanken begann.

      Auch


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