Mütter. Anja Bagus
den Zeitungen stand damals, dass mindestens zwei von den vier Babys noch gelebt haben, als Käthe sie erst im Garten – und die restlichen dann im Blumenkasten verbuddelt hat.
In den ganz dunkeln Augenblicken im Kinderheim hat Jule an solche Geschichten gedacht. Und sie kam – obwohl sie damals erst sieben war – zu dem Ergebnis: Lieber keine Eltern, als Monster.
Monster-Käthe.
Da steht sie vor Jule und redet und redet und der Tonfall wird immer weinerlicher.
Dass sie nie gesunde Kinder bekommen konnte. Dass sie sich so sehr welche gewünscht hat. Dass sie extra immer verschiedene Männer ausprobiert hat. Weil man das auch im Garten so macht, wenn’s schief geht. Das Saatgut wechseln.
Es ging nicht. Wieder und wieder.
„Dann habe ich versucht, sie einzupflanzen.“
Jule hat mal kurz Probleme mit dem Luftholen.
„ … einzupflanzen …?!“
„Ja. Ich habe gehofft, dass Mutter Erde das hinkriegt, was mein Körper nicht schafft.“
Okay, der erste Preis für den beklopptesten Irren geht … mit weitem Vorsprung … an Käthe Heuer. Herzlichen Glückwunsch.
Jule versucht, sich loszureißen. Aber Käthe hält sie fest. Woher nimmt diese magere Olle so viel Kraft?
„Ich habe auch immer gegossen und gedüngt. Aber es hat nicht funktioniert. Aber was sollte ich machen?“
Erwartet sie darauf eine Antwort? Eher nicht. Denn Käthe redet weiter: Sie erzählt, dass sie immer alles gut gekonnt hat, was mit Pflanzen zu tun hat. Dass es einen Versuch wert war.
Und dass sie nicht verrückt ist!
Nein, nein. Eine Menge Leute pflanzen ihre Babys ein. Tot oder lebendig. Das hat schon beim ‚Friedhof der Kuscheltiere‘ total gut funktioniert. Super-Idee!
Aber Käthe ist immer noch nicht fertig.
„Ich bin geistig gesund. Du bist der Beweis.“
Jule wird schwindelig. Ihr wird klar, dass das alles hier kein Zufall ist. Dass die vielen Fragen nach ihrem Privatleben und ihrer Kindheit der Grund für dieses Interview sind. Käthe hat sie ausgesucht. Um Jule was genau zu sagen?
„Du bist der erste Versuch. Aber du warst keine Aussaat. Und ich dachte, du gehst nicht auf. Sonst wäre ich doch nie weggezogen. Wenn ich gewusst hätte, dass du doch noch was wirst.“
Käthe sieht Jule liebevoll an. So liebevoll, wie das eben bei einer vierfachen Kindsmörderin so geht. Die Finger im Gartenhandschuh streicheln Jules Wange.
„Und wunderschön bist du geworden.“
Jule fühlt sich nicht gut. Der Joghurt von heute früh steigt zusammen mit dem Müsli ihre Speiseröhre hoch.
Und als Jule schreien will … als sie sich losreißen will und Hilfe holen …
… da rechnet sie. Jule rechnet nach. Wie alt sie jetzt ist. Wann Käthe in dem Haus mit Garten gewohnt hat. Dann bezieht sie noch die wenigen Details mit ein, die sie über die Umstände ihres Auffindens weiß. Baby Jule wurde von einem Unbekannten vor die Polizeiwache gelegt. In einer Decke. Mit dicken Erdbrocken daran.
Scheiße!
Nicht dass Jule die Nummer jetzt glaubt. Dass sie ernsthaft glaubt, ein Spaziergänger hätte sie in einem verlassenen Beet gefunden.
Aber …
„Ich bin dein untoter Baby-Zombie?! Das ist es, was du denkst?“
Käthe schüttelt mütterlich den Kopf.
„Sei nicht albern.“
Jule schweigt. Sieht sie an. Und dann:
„Du bist natürlich nicht untot. Du bist so lebendig wie mein Efeu. Und meine Lilien.“
Jule nutzt die Gelegenheit. Käthes Griff hat sich gelockert und Jule kann zwei, drei Schritte rückwärts gehen. Abstand. Hauptsache Abstand.
Aber Käthe kommt ihr nicht nach. Sie steht da – und aus dem Flacker-Lächeln, das ihr runzeliges Puppengesicht durchrüttelt hat, ist ein breites Grinsen geworden.
„Was willst du von mir?“
„Kannst du dir das nicht denken?“
„Dass ich dir ab jetzt Karten zum Muttertag schreibe oder was?!“
Käthe schüttelt den Kopf:
„Du musst doch bei der Vorbereitung auf unser Interview auch etwas über Gärtner gelernt haben. Wie die so ticken. Dass sie immer sehen wollen, wie schön die Saat aufgegangen ist.“
Jule rennt den Weg bis zur Schleuse.
Rennt durch die Kontrolle.
Rennt auf die Straße zum Auto.
Jule parkt vor der Redaktion ein und sitzt dann noch lange im Wagen.
Sie denkt nach. Sie muss fast lachen. Für einen Moment … für einen kurzen Moment … da hat sie wirklich gedacht, es könnte was dran sein. An dieser irren Geschichte. Dass Käthe wirklich ihre Mutter sein könnte.
Aber das ist auch einfach. Waisenkinder sind – was das angeht – so wahnsinnig bedürftig. Der Wunsch, die Eltern kennenzulernen, ist einfach zu groß.
Aber jetzt … jetzt geht ihr Puls wieder normal. Und Jule grinst sich selbst im Schminkspiegel an. Sie muss an früher denken.
Und daran, dass sie es da schon kapiert hatte: Lieber keine Eltern, als ein Monster.
Und so soll es bleiben.
Aber in ihrem Kopf geistert noch immer eine Frage herum. Wie hat Käthe das wohl gemeint? Als sie gesagt hat: „Du warst keine Aussaat.“?
Hinter den hohen Mauern nutzt Käthe das restliche Licht. Wird ja immer schneller dunkel, in dieser Jahreszeit.
Käthe bereitet ein neues Beet vor. Frische Erde mit viel Dünger. Das beste Plätzchen an der sonnigsten Stelle.
Und Käthe zieht ihren linken Handschuh aus. Sie betrachtet den fehlenden Daumen. Die Narbe ist alt. Etwa so alt, wie Jule jetzt.
Käthe muss über sich selbst lachen. Wie albern sie war. Und wie naiv. Als ob ein Babykörper jemals richtig anwachsen würde. So ein Unsinn aber auch. Das alles hätte sie sich sparen können. Die Fehlversuche.
Das Warten.
Die Enttäuschung.
Ja, sogar die Haftstrafe.
Ihr erster Versuch war der Beste. Sieht man ja an Jule. Und als Käthe nach der Rosenschere greift …
… da weiß sie auch das Thema ihres nächsten Buches: Es wird davon handeln, wie man die besten Ergebnisse erzielt …
… mit Ablegern.
Und dieses Mal nimmt sie ihren Zeigefinger. Es soll ja ein Junge werden.
ISA THEOBALD lebt und arbeitet im Saarland, wo sie neben dem Schreiben auch noch kocht, Krimi-Dinner veranstaltet, Seifen siedet, mit Feuer tanzt, absonderliche Hobbys und ebensolche Menschen sammelt und im Großen und Ganzen sehr viel Freude am Leben hat. Geschichten von ihr sind unter anderem erschienen bei Ubooks, Verlag Torsten Low, UlrichBurger-Verlag, Charon-Verlag und Feder & Schwert.