Mütter. Anja Bagus
nicht. Bestimmt irgendeine kleine Oktopus-Art. Während Miriam darüber nachdachte, in welchem Meer wohl ein feuerroter Oktopus zu Hause war, häufte sie alles auf die Gabel. Schnell schob sie sich diese in den Mund, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Ein Feuerwerk aus Aromen explodierte auf Miriams Zunge. Mhmm, ganz wunderbar. Für ein paar Sekunden genoss sie den Geschmack — bis die Schärfe zuschlug. Klar, die Dinger hießen ja auch Drachenrollen.
Unter Tränen stieß sie hervor: „Sind die scha-a-arf.“
Oliver drückte ihr hilfsbereit ihr Wasserglas in die Hand. „Aber wie schmeckt’s?“
Miriam setzte das Glas an, aber noch ehe sie einen Schluck genommen hatte, ließ die Schärfe genauso plötzlich nach, wie sie aufgetreten war.
Verdutzt setzte Miriam das Glas ab. „Lecker, wirklich.“ Sie häufte schon die nächste Gabel voll Essen. „Möchtest du kosten?“
„Nee, lass mal.“ Oliver wehrte mit einem Lächeln ab. „Hauptsache, dir schmeckt’s.“
Miriam war jetzt gewappnet und ließ sich vom nächsten Schärfe-Angriff nicht überwältigen. Wenn man die Augenblicke von Feuer im Rachen ignorierte, waren die Drachenrollen wirklich richtig lecker. Gabel um Gabel voll Haut und Füllung verschwand in Miriams Mund.
„Nein!“ Mei tauchte plötzlich mit einem Aufschrei neben ihr auf und packte Miriams Handgelenk, sodass die Gabel voll Füllung klappernd auf den Teller fiel. „Ein Versehen!“, rief sie laut, ganz außer sich. „Falsche Drachenrolle!“
Miriam blinzelte überrascht. Für einen Moment verschwamm das Restaurant vor ihren Augen. Sie hatte nicht das Gefühl, ohnmächtig gewesen zu sein, aber von einer Sekunde auf die nächste schwebte Olivers Gesicht direkt vor ihr und er griff besorgt nach ihren Händen. „Ist alles okay? Oh nein, du bist leichenblass!“
Von der anderen Seite beugte sich eine ältere Chinesin über Miriam. Ihre grauen Haare waren zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten und fielen ihr in die eisgrauen Augen.
Mei rang die Hände. „Das Gericht war nicht für Sie bestimmt, Verzeihung. Falsche Drachenrolle. Alles in Ordnung?“
„Verzeihen Sie Meis Fehler“, sagte die alte Chinesin. „Darf ich Ihnen eine andere Vorspeise bringen?“ Sie zischte Mei etwas zu und das Mädchen duckte den Kopf.
„Verzeihung, Mama Wu“, flüsterte sie mit vor Furcht bebender Stimme, „Verzeihung, Verzeihung.“
„Es ist doch alles in Ordnung“, sagte Miriam energisch. „Es war wohl nur etwas zu scharf.“
„Sie haben nur wenig gegessen, was für ein Glück“, flüsterte Mei und zog Miriam den Teller weg.
„Wenig?“ Die Frau, die Mei als Mama Wu tituliert hatte, schüttelte den Kopf. „Fast eine ganze Drachenrolle!“ Sie legte die Hand auf Miriams Schulter. Ihre Finger waren warm und fühlten sich knochig an. „Fühlen Sie sich wirklich gut?“
Peinlich berührt pustete Miriam sich die Haare aus dem erhitzten Gesicht und lachte unsicher. „Es war nur ein wenig scharf. Können wir jetzt bitte mit dem Hauptgang weitermachen?“
Mama Wu und Mei deuteten eine Verneigung mit dem Kopf an. „Natürlich. Kommt sofort“, versprach Mama Wu. Beide Frauen zogen sich tuschelnd in die Küche zurück.
Miriam schüttelte mit einem peinlich berührten Lachen den Kopf. „Wo waren wir gerade?“ Sie zog ihr schwarzes Top etwas ab, um ein wenig Luft an ihren Körper zu lassen. Meine Güte, das Zeug war aber auch scharf gewesen. Am ganzen Körper brachen ihr jetzt Schweißperlen aus. Zum Hauptgang gab es bestimmt viel Reis, mit dem konnte sie den Brand hoffentlich etwas löschen.
„Beim Reparieren von Oldtimern”, entgegnete Oliver.
Puh, endlich wusste Miriam um welches mysteriöse Hobby es ging. „Ich habe noch nie einen Schraubenschlüssel geschwungen“, bekannte sie, „aber ich hätte Lust, es mal zu probieren.“
„Ich freu mich drauf.“ Oliver hob ein winziges Glas zum Toast. Miriam hatte gar nicht mitbekommen, dass der Sake serviert worden war. Sie toastete Oliver zu und ließ den süßen Wein über ihre Zunge rinnen. Feuer raste ihren Rachen hinunter und ein ungeheurer Niesreiz überkam sie. Bevor sie die Hand vor die Nase schlagen konnte, hatte er sich mit einem trompetenden „Ha-a-atschi“ Bahn gebrochen.
Peinlich berührt schlug Miriam sich die Hand vors Gesicht. Ihre Nase tat richtig weg. Sie tastete auf dem Tisch nach ihrer Serviette, als ein Aufschrei von Oliver ihren Blick hochfahren ließ. Sein Bart stand in hellen Flammen! Oliver sprang auf und sein Stuhl fiel krachend um. Er schrie weiter, während er sich die Hände ins Gesicht schlug, um die Flammen zu löschen.
Miriam sprang an seine Seite, um ihm zu helfen. Sie drückte die Serviette auf die Flammen, während sie vernehmlich die Nase hochzog. Mist, sie musste schon wieder niesen. Da sie mit beiden Händen die Serviette hielt, drehte sie nur den Kopf zur Seite und nieste. Ein dünner Feuerstrahl schoss aus ihrer Nase und setzte Olivers Polohemd in Brand.
Er entriss ihr die angekokelte Serviette und schlug auf seine Brust ein, während er mit Panik im Blick vor ihr zurückwich.
„Es tut mir Leid“, wollte Miriam eigentlich rufen, aber was aus ihr herauskam, war ein raues „Grrrrraaaaoooooooooooaaar“.
Mama Wu und eine Gruppe Chinesinnen kamen mit Decken und Tüchern angelaufen, um den Brand zu löschen. Bald lag Oliver am Boden und die Flammen waren erstickt.
Entsetzt räusperte Miriam sich, trotzdem brachten ihre Stimmbänder weiterhin keine Worte, sondern nur ein lautes Grollen hervor. Oliver starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Wo sein Bärtchen geprangt hatte, bildete sich eine dicke Brandblase.
Miriam streckte die Hand nach ihm aus. Die langen Ärmel ihres T-Shirts klebten schweißnass an ihren Armen.
Starke Hände packten Miriam von hinten. Sie trat aus und wehrte sich, aber sie wurde von einer Gruppe Frauen aus dem Raum geschleift. Es ging eine Treppe hinab, noch eine, diesmal mit schiefen Steinstufen, die in der Mitte ausgetreten waren. Dann ließen die Frauen sie so abrupt los, dass Miriam vornüber fiel. Sie konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. Als sie taumelnd wieder auf die Beine kam, war sie allein im Keller.
„Hallo?“, rief Miriam. „Ich glaube, es hackt. Das gibt so was von einer miesen Bewertung auf Tripadvisor.“
Sie stand in einem Kellergewölbe, dessen Decke bestimmt fünf Meter hoch war. Die Lampe an der Decke erhellte gerade noch die Treppe, der Rest des riesigen Raumes verlor sich in Dunkelheit. Ihre Schulterknochen juckten wie verrückt. Irgendwie beruhigte das Jucken Miriam. Kein Wunder, dass sie sich so komisch fühlte — sie war wahrscheinlich allergisch auf etwas im Essen gewesen.
Und das Feuer, das sie geniest hatte? Miriam schüttelte den Kopf. „Kann ja gar nicht sein.“ Sie würde nach Oliver sehen, ihn fragen, was wirklich passiert war und dann würden sie das Date um eine Woche verschieben, wenn Miriam sich nicht mehr so seltsam fühlte.
Als sie zur Treppe zurückstapfte, wurde der Juckreiz so stark, dass sie sich erst einmal am Treppengeländer schubbern musste.
„Dir sprießen Flügel“, sagte Mama Wus Stimme hinter ihr. „Lass es geschehen und wehr‘ dich nicht dagegen, dann geht es schneller vorbei.“
Miriam schnaubte verächtlich. „Ich habe keine bekifften Flügel und gehe jetzt nach Hause.“ Es interessierte sie nicht besonders, wie die alte Chinesin es geschafft hatte, aus dem Nichts zu erscheinen. Und sahen ihre Hände nicht länger aus, hier unten im Dämmerlicht? Fast so, als ob die zierliche alte Dame lange elfenbeinfarbene Klauen hätte …
„Ach was, alles nur Einbildung“, redete Miriam sich in Gedanken gut zu. Sie sprang auf die Kellertreppe. Der Griff, der sich von hinten um ihren Arm schloss und sie zurückhielt, war nicht gerade der einer zerbrechlichen alten Dame. Schraubzwinge traf es eher.
„Sie haben ja wohl einen Sprung in der Schüssel“, knurrte Miriam.