Eingriffsrecht Brandenburg. Viktor Nerlich
2. Ermessen
Gemäß § 4 Abs. 1 BbgPolG trifft die Polizei ihre Maßnahmen zur Gefahrenabwehr aufgrund des Polizeigesetzes nach pflichtgemäßem Ermessen. Auch die einzelnen Befugnisnormen drücken dies aus, indem sie davon sprechen, dass die Polizei von ihnen Gebrauch machen „kann“. Demgegenüber ist sie gemäß § 163 Abs. 1 StPO zur Verfolgung von Straftaten verpflichtet (Legalitätsprinzip). Ermessen liegt vor, wenn die Verwaltung zwischen mehreren Rechtsfolgen wählen darf. Dabei unterscheidet man zum einen das Entschließungsermessen (betreffend die Frage, ob die Verwaltung überhaupt handelt bzw. tätig werden will) und das Auswahlermessen (betreffend die Frage, welche Maßnahmen die Verwaltung ergreifen wird). Welche Ermessensart jeweils vorliegt, muss der konkreten Norm entnommen werden. Zum anderen wird zwischen der am konkreten Einzelfall orientierten individuellen Ermessensausübung und der am typischen Einzelfall orientierten generellen Ermessensausübung differenziert.99
Ermessen ist jedoch keine Befugnis zur Beliebigkeit, sondern darf nur in Form des pflichtgemäßen bzw. rechtlich gebundenen Ermessens entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Beachtung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens ausgeübt werden (vgl. § 40 VwVfG). Die Polizei muss also jeweils prüfen, aus welchem Grund der Gesetzgeber ihr einen Ermessensspielraum eingeräumt hat. Mitunter kann es aber auch vorkommen, dass der Polizei nur eine Rechtsfolge bleibt, weil alle Alternativen ermessensfehlerhaft wären. Dann spricht man von Ermessensreduzierung auf Null bzw. Ermessensschrumpfung. In diesen Fällen muss die Polizei i. S. der einzigen Rechtsfolge tätig werden. Das kommt insbesondere in den Fällen vor, wo höherwertige Rechtsgüter wie Leib, Leben, Gesundheit und Freiheit betroffen sind.100
Die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen ist beschränkt auf das Vorliegen von Ermessensfehlern (vgl. § 114 VwGO). Ermessensfehler sind:101
– Ermessensüberschreitung: die Polizei wählt eine Rechtsfolge außerhalb des Ermessensrahmens.
– Ermessensnichtgebrauch: die Polizei nutzt ihr Ermessen nicht.
– Ermessensfehlgebrauch: die Polizei übt ihr Ermessen nicht ausschließlich entsprechend dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage bzw. unter Missachtung der gesetzlichen Zielvorstellungen aus.
3. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Nach dem im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) fußenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (auch Übermaßverbot genannt) muss jede den Bürger belastende, also in seine Grundrechte eingreifende Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sein. Dies gilt sowohl für die Gefahrenabwehr als auch für die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.102 Selbst wenn also die Polizei zu Eingriffen in die Rechte der Bürger im Einzelfall wegen Vorliegens der tatbestandlichen und sonstigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen berechtigt ist, hat sie stets die Intensität der rechtlichen Beeinträchtigung so gering wie möglich zu halten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt daher die Eingriffsbefugnis der Polizei im Einzelfall und dient dazu, den Eingriff so gering wie möglich zu halten.103 Verstößt eine Ermessensentscheidung gegen das Übermaßverbot, ist sie ermessensfehlerhaft.104
Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme erfolgt in drei Schritten.105 Sie muss zunächst geeignet sein. Das ist der Fall, wenn sie den verfolgten Zweck, also das polizeiliche Ziel erreicht oder zumindest fördert, mithin zwecktauglich ist. Was demgegenüber objektiv untauglich ist, kann nicht geeignet sein (vgl. § 3 Abs. 3 BbgPolG). Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn sie von mehreren geeigneten Mitteln die mildeste ist, d. h. am wenigsten in die Grundrechte des Betroffenen eingreift (vgl. § 3 Abs. 1 BbgPolG). Angemessen (verhältnismäßig i. e. S.) ist eine Maßnahme, wenn die mit ihr verbundenen Nachteile für den Betroffenen nicht völlig außer Verhältnis zu dem damit verbundenen Zweck bzw. erstrebten Erfolg stehen. Es sind also insbesondere die beeinträchtigten Grundrechte mit dem polizeilichen Ziel abzuwägen, und zwischen ihnen darf kein „krasses Missverhältnis“ bestehen (vgl. § 3 Abs. 2 BbgPolG).
V. Handlungsmittel der Polizei
1. Verwaltungsakte und Realakte
Maßnahmen der Polizei lassen sich rechtlich verschiedenen Handlungsformen zuordnen, die jeweils an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft sind. Von besonderer Bedeutung ist die rechtliche Einordnung des polizeilichen Handelns im Bereich der Gefahrenabwehr. Hier kommen vor allem zwei Arten von Handlungsmitteln vor: Verwaltungsakt und Realakt. Wesentlicher Unterschied zwischen beiden Instrumenten ist, dass entweder eine Regelung bzw. Anordnung, d. h. sinngemäß ein Befehl erlassen wird (Verwaltungsakt) oder die Polizei nichtregelnd bzw. nicht anordnend, sondern „einfach so“ tätig wird (Realakt).106
Beispiele für Verwaltungsakte der Polizei sind:
– die Wohnungsverweisung/das Rückkehrverbot (§ 16a BbgPolG)
– der Platzverweis (§ 16 BbgPolG)
– die Aufforderung zur Aushändigung des Ausweises (§ 12 BbgPolG)
– sonstige Anordnungen bzw. „Befehle“ gegenüber dem Bürger (ggf. gemäß § 10 BbgPolG)
Beispiele für Realakte der Polizei sind:
– die Streifenfahrt
– das Festhalten einer Person
– das Durchsuchen von Personen, Sachen und Wohnungen
– die Verwahrung sichergestellter Sachen
– Maßnahmen im Rahmen des sofortigen Vollzugs gemäß § 53 Abs. 2 BbgPolG
In der Praxis ist es nun so, dass Verwaltungs- und Realakte oftmals ineinander übergreifen. Dabei ist es nicht immer einfach, die Rechtsnatur der jeweiligen polizeilichen Maßnahme eindeutig zu bestimmen. So gestattet bspw. § 21 BbgPolG als Handlungsbefugnis die Durchsuchung einer Person. Das Durchsuchen selbst ist schlichtes Tun, ein Realakt. Es wird allerdings in der Regel eingeleitet bzw. begleitet von einem sogen. Duldungsverwaltungsakt gegenüber dem anwesenden Betroffenen, der die Aufforderung beinhaltet, z. B. die Durchsuchung zu dulden bzw. sich so zu verhalten, dass die Maßnahme schonend durchgeführt werden kann. Ungeachtet dessen kann die Polizei ihn auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit dazu auffordern, die Sache herauszugeben, was wiederum ein Verwaltungsakt ist.107
2.1 Definition und Merkmale des Verwaltungsakts
Der Verwaltungsakt ist eines der bedeutendsten Handlungsmittel der öffentlichen Verwaltung und damit auch der Polizei. Er dient dem Vollzug von Gesetzen, weil er die darin generell-abstrakt normierten Rechte und Pflichten im Einzelfall konkretisiert. Die Effizienz des Verwaltungsakts zeigt sich insbesondere in seiner Durchsetzbarkeit. Beachtet ihn nämlich der Adressat nicht, kann ihn die Verwaltung unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen vollstrecken und seine Regelung zwangsweise vollziehen. Das ist ein bedeutender Unterschied zum Bürger, der seine Ansprüche nicht so „einfach“ durchsetzen kann. Er muss regelmäßig erst vor Gericht klagen, seinen Anspruch im Bestreitensfall beweisen und ein erstrittenes Urteil mit Hilfe des Gerichtsvollziehers vollstrecken. Das ist meist sehr zeitaufwendig. Diese Zeit