Eingriffsrecht Brandenburg. Viktor Nerlich
werden können, die nicht mit Rechtsverletzungen einhergehen, nämlich insbesondere durch Naturkatastrophen wie Stürme, Hochwasser oder Lawinen. Ähnlich liegt es in Fällen von Selbstgefährdung oder Selbsttötung. Soweit sie von einem freien Willen getragen sind, können sie als Ausdruck grundrechtlich geschützter Selbstbestimmung keine Gefahr oder Störung der öffentlichen Sicherheit darstellen. Anders liegt es nur, wenn es an der Freiverantwortlichkeit fehlt oder durch die Selbstgefährdung bzw. den Suizid Dritte in Mitleidenschaft gezogen werden (z. B. Suizid durch Aufdrehen des Gashahns im Mietshaus).24
Die dritte Fallgruppe der öffentlichen Sicherheit schützt den Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates, seiner Einrichtungen und Veranstaltungen. Bestand des Staates meint die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit Deutschlands; Einrichtungen des Staates sind insbesondere seine Organe, Behörden, Körperschaften oder Einrichtungen wie Schulen, Museen oder Schwimmbäder; unter Veranstaltungen des Staates versteht man u. a. die staatliche Tätigkeit sowie Staatsempfänge oder Gelöbnisse bzw. Vereidigungen.25 Wiederum ist in diesen Fällen vorrangig die Verletzung der Rechtsordnung zu prüfen. Das zeigt sich anschaulich an der Behinderung polizeilicher Einsätze, die die Polizei mittels eines Platzverweises unterbinden kann (§ 16 BbgPolG). Differenziert zu betrachten ist im Vergleich dazu die Warnung vor polizeilichen Geschwindigkeitskontrollen.26 Zweifelhaft ist vor dem Hintergrund von Art. 5 und Art. 8 GG, ob öffentliche Kritik am Staat seine Einrichtungen oder Veranstaltungen verletzen könnte (z. B. Störung von öffentlichen Gelöbnissen).27 Soweit ein Verstoß gegen Rechtsnormen nicht festgestellt werden kann, ist es in allen diesen Fällen schwierig, eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit zu bejahen. Als Faustregel gilt daher: Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit wegen Beeinträchtigung des Staates bzw. seiner Einrichtungen sind eher restriktiv anzunehmen, es sei denn, konkrete Normverstöße liegen vor.28
Ist die öffentliche Sicherheit nicht betroffen, muss geprüft werden, ob die öffentliche Ordnung verletzt wird. Öffentliche Ordnung ist die Summe der ungeschriebenen Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens angesehen wird.29 Gemeint ist also ein Verstoß gegen außerrechtliche Normen. Denn rechtswidriges Verhalten berührt die öffentliche Sicherheit in Gestalt der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung. Was aber nicht gesetzlich verboten ist, ist grundsätzlich erlaubt. Daher ist die Zahl der Anwendungsbeispiele für eine Verletzung der öffentlichen Ordnung gering und zudem als polizeiliches Schutzgut bzw. Voraussetzung für polizeiliche Maßnahmen umstritten.30 Ungeachtet dessen setzt ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung voraus, dass
– es bezüglich des fraglichen Verhaltens eine außerrechtliche Sozialnorm gibt,
– die für das geordnete Zusammenleben unentbehrlich, ein Verstoß hiergegen dem Einzelnen also unzumutbar ist und
– das fragliche Verhalten öffentlich, also wahrnehmbar ist und gegen diese Sozialnorm verstößt.31
1.3 Der Begriff der Gefahr
Gefahr ist neben der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung das zweite Tatbestandsmerkmal von § 1 Abs. 1 BbgPolG. Gefahr kommt in verschiedenen Formen vor. Unter einer konkreten Gefahr, die u. a. für Maßnahmen gemäß § 10 Abs. 1 BbgPolG vorliegen muss, ist eine Sachlage oder ein Verhalten zu verstehen, die bzw. das im Einzelfall, d. h. „hier und jetzt“, tatsächlich oder jedenfalls aus der Ex-ante-Sicht des gewissenhaft und besonnen handelnden Beamten bei verständiger Würdigung in naher, d. h. überschaubarer Zukunft bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die öffentliche Sicherheit oder Ordnung schädigen wird.32 Im Gegensatz dazu ist die abstrakte Gefahr eine mögliche, d. h. gedachte Sachlage oder Verhaltensweise ohne Bezug zu einem konkreten Einzelfall, die nach allgemeiner Lebenserfahrung oder aufgrund fachkundiger Erkenntnisse typischerweise die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts in sich birgt. Sie liegt vor, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung eines bestimmten Verhaltens oder Zustands zu dem Schluss führt, dass bei ihnen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden zu erwarten ist, ohne dass in diesem Moment eine Gefahr im Einzelfall vorliegen müsste. Sie genügt gemäß § 1 Abs. 1 BbgPolG für die Bejahung der Zuständigkeit der Polizei.33 Darüber hinaus verwendet das Polizeigesetz folgende weitere Gefahrenbegriffe:34
– eine gemeine Gefahr ist eine konkrete Gefahr, die dann vorliegt, wenn einer Vielzahl von Personen ein Schaden an Leib oder Leben oder bedeutenden Sachenwerten droht (z. B. bei Naturkatastrophen, Großbränden oder anderen Havarien);
– eine gegenwärtige Gefahr ist eine konkrete Gefahr, die dann vorliegt, wenn der Schaden an der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar, d. h. in allernächster Zeit bevorsteht oder bereits eingetreten ist und andauert (im letztgenannten Fall spricht man auch von einer Störung);
– eine erhebliche Gefahr ist eine konkrete Gefahr, die bedeutende Rechtsgüter wie Leib, Leben, Freiheit, erhebliche Vermögenswerte (ab etwa 500,- Euro) oder den Bestand des Staates zu schädigen droht; sie deckt sich weitgehend mit der dringenden Gefahr, die ebenfalls eine konkrete Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut ist;35
– Gefahr im Verzug liegt vor, wenn zur Schadensverhinderung das sofortige Eingreifen der unzuständigen Behörde erforderlich ist, weil ein Tätigwerden der an sich zuständigen Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint.36
– Neuerdings hat in die Polizeigesetzgebung die drohende Gefahr Eingang gefunden. Der Sache nach kennt auch das brandenburgische Polizeigesetz diese Gefahr, auch wenn es sie (anders als z.B. Art. 11 Abs. 3 BayPAG) begrifflich so nicht bezeichnet.37 Es handelt sich bei ihr um eine Sachlage, bei der entweder bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise eine Straftat nach § 28a Abs. 1 BbgPolG begehen wird, oder das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, sie werde innerhalb eines übersehbaren Zeitraums eine Straftat nach § 28a Abs. 1 BbgPolG begehen (vgl. § 28b Abs. 3 und § 28c Abs. 1 BbgPolG).38
Ist die Gefahr oder Störung beendet, bleibt für Maßnahmen aufgrund des Polizeirechts regelmäßig kein Raum mehr. Eine beendete Rechtsverletzung kann aber ggf. als Ordnungswidrigkeit oder Straftat verfolgbar sein, wofür die Polizei jedoch aufgrund anderer Vorschriften zuständig ist.
Beispiel
A geht in die B-Bank mit dem Vorsatz, sie zu überfallen. Bis zum Beginn des Tatversuchs i. S. des § 22 StGB liegt polizeirechtlich eine Gefahr in Form einer drohenden Rechtsverletzung (z. B. § 255 StGB) vor. Maßnahmen hiergegen ergeben sich aus dem Polizeigesetz. Mit dem Versuch schlägt die Gefahr in eine Störung um, denn die Rechtsverletzung ist eingetreten und dauert an. Maßnahmen hiergegen ergeben sich ebenfalls aus dem Polizeigesetz (Gefahrenabwehr in Form der Störungsbeseitigung). Nach dem Überfall (Beendigung der Straftat) ist die Störung in Form der Rechtsverletzung abgeschlossen. Sie muss nun als begangene Straftat aufgeklärt und verfolgt werden, was auf der Grundlage des Strafverfahrensrechts erfolgt. (Unabhängig davon können gleichzeitig noch andere Gefahren bzw. Störungen vorliegen wie bspw. verletzte oder gefesselte Personen. Maßnahmen hiergegen sind wiederum präventiv.)
Zur Gefahr gehört auch die Anscheinsgefahr. Diese liegt vor, wenn sich am Ende zwar herausstellt, dass eine Gefahr tatsächlich gar nicht vorlag, der drohende Schadenseintritt aber aufgrund einer verständigen und vertretbaren Prognose eines gewissenhaft und besonnen handelnden Polizeibeamten angenommen wurde. Unter diesen Voraussetzungen liegt eine „echte“ Gefahr i. S. des Polizeigesetzes vor, so dass Maßnahmen aufgrund einer Anscheinsgefahr rechtmäßig sind. Das ergibt sich direkt aus dem oben definierten Begriff der konkreten Gefahr.
Beispiel
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