Eingriffsrecht Brandenburg. Viktor Nerlich
Polizei- und Ordnungsrecht sowie Grundzüge des Versammlungsrechts und des Verwaltungsvollstreckungsrechts, 19. Aufl., Hamburg 2017
Steinhorst, Polizei- und Ordnungsrecht in Brandenburg. Grundstrukturen, Übersichten, Fälle und Lösungen, Berlin 2010
Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-Württemberg. Kommentar, 7. Aufl., Stuttgart 2014
Tegtmeyer/Vahle, Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen mit Erläuterungen, 12. Aufl., Stuttgart 2018
Kapitel 1 Grundlagen des Eingriffsrechts
I. Begriff und Bedeutung des Eingriffsrechts
„Recht“ ist der Oberbegriff für ein System von Regeln zur Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, dessen prägendes Merkmal darin besteht, dass es notfalls zwangsweise durch staatliche Organe durchgesetzt werden kann. Darin unterscheidet sich das Recht von anderen Ordnungssystemen, die ebenfalls berechenbares wie verlässliches Verhalten herbeiführen wollen und die jeder einzelne aus der Familie oder aus sozialen Gruppen kennt, nämlich Moral und Sitten bzw. Gebräuche.1 Das Recht ergibt sich aus einer Vielzahl von Normen, den sogen. Rechtsquellen:2
Die Normen des geschriebenen Rechts stehen in einer besonderen Hierarchie zueinander, die aus der obigen Übersicht hervorgeht. Danach genießt das Recht, das von Organen der Europäischen Union erlassen wird, Anwendungsvorrang gegenüber dem Recht der Mitgliedsstaaten. Innerhalb Deutschlands haben die Normen des Bundes gegenüber jenen der Länder Geltungsvorrang (Art. 31 GG). Zwischen dem Grundgesetz und den förmlichen Bundesgesetzen stehen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die aus dem Völkergewohnheitsrecht und den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts bestehen (Art. 25 GG).3 Sie spielen im Eingriffsrecht insbesondere dann eine Rolle, wenn die Polizei es mit Diplomaten oder ausländischen Gesandten oder mit Beschuldigten zu tun hat, die eine ausländische Staatsangehörigkeit haben.
Die Gesamtheit des Rechts wird Rechtsordnung genannt, die sich in das öffentliche Recht einerseits und in das Privatrecht (Zivilrecht) andererseits teilt. Das öffentliche Recht regelt die Rechtsbeziehungen des einzelnen zum Staat und den übrigen Trägern öffentlicher (hoheitlicher) Gewalt sowie das Verhältnis der einzelnen Hoheitsträger untereinander. Wichtige Beispiele für das öffentliche Recht sind das Staatsrecht und das Verwaltungsrecht, zu dem u. a. das Beamtenrecht, das Polizeirecht oder das Steuerrecht zählen. Auch das Strafrecht und alle Prozessrechte, wie z. B. die Verwaltungsgerichts- oder Strafprozessordnung, zählen hierzu. Prägendes, wenn auch nicht ausschließliches Kennzeichen des öffentlichen Rechts ist das zwischen dem Bürger und dem Staat bestehende Über- und Unterordnungsverhältnis, das in den Befugnissen der Polizei besonders anschaulich zum Ausdruck kommt. Das Privatrecht regelt demgegenüber Rechtsbeziehungen auf der Ebene der Gleichordnung. Hier gibt es grundsätzlich keine Über- und Unterordnung.4 Auch das Privatrecht ist vielfältig gegliedert: Das allgemeine Privatrecht, das auch bürgerliches Recht genannt wird, gilt für jedermann. Es ist zu weiten Teilen im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt und bildet die Grundlage für „das tägliche Leben“ des Einzelnen, z. B. Vertragsrecht, Familienrecht, Erbrecht oder Eigentum und Besitz. Sonderprivatrechte gelten hingegen nur für bestimmte Bereiche und deren Angehörige, so z. B. das Arbeitsrecht, das die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern regelt, oder das Handelsrecht als das Recht der Kaufleute und Handelsgeschäfte.5
2.1 Definition und Inhalts des Eingriffsrechts
„Eingriffsrecht“ ist die Summe aller Rechtsnormen, die die Aufgaben und Befugnisse der Polizei zum Einschreiten gegenüber dem Bürger beinhalten. Eingriffsrecht ist kein eigenes rechtswissenschaftliches Fachgebiet wie bspw. Verfassungs-, Verwaltungs- oder Strafrecht, sondern die Bezeichnung für ein Lehrfach, das aus den Bedürfnissen des Unterrichts für Polizeianwärter entstanden ist und rechtsgebietsübergreifend die Aufgaben und Eingriffsbefugnisse der Polizei „unter einem Dach“ zusammenfasst. Aus didaktisch-praktischen Gründen ist das verständlich und sinnvoll. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Teilgebiete des Eingriffsrechts insbesondere in verschiedenen Bereichen der Rechtswissenschaft angesiedelt sind, auf unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen beruhen und jeweils anderen Rechtswegen folgen.6 In ihrer täglichen Arbeit muss sich die Polizei deshalb jederzeit vergegenwärtigen, auf welcher gesetzlichen Grundlage ihre jeweilige Maßnahme beruht bzw. welchem Ziel ihr Handeln dient: Prävention oder Repression, d. h. Gefahrenabwehr oder Verfolgung von Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten.7 Zwar haben viele Eingriffe aus dem Polizei- und Strafverfahrensrecht die gleiche Bezeichnung; ihre Voraussetzungen folgen aber unterschiedlichen Normen mit verschiedenen Tatbestandsmerkmalen (vgl. z. B. § 12 BbgPolG mit § 163b StPO). Für manche Eingriffe gibt es Rechtsgrundlagen zudem nur im Polizeigesetz (z. B. die Wohnungsverweisung oder das Aufenthaltsverbot) oder nur in der Strafprozessordnung (z. B. die körperliche Untersuchung).8 Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Maßnahme kommt es daher darauf an, ob sie zu Zwecken der Gefahrenabwehr oder zur Verfolgung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten erfolgt.
2.2 „Polizei“
Der Begriff „Polizei“ hat verschiedene Bedeutungen: Zunächst ist damit eine bestimmte staatliche Tätigkeit gemeint: die Abwehr und Beseitigung von Gefahren oder Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (Gefahrenabwehr). Man spricht auch von Polizei im materiellen Sinne, ohne dass damit gesagt wird, wer diese Tätigkeit ausübt. Wenn in diesem Lehrbuch aber von „Polizei“ die Rede ist, so ist damit stets die Behörde bzw. Tätigkeit der Vollzugspolizei gemeint, die in Brandenburg gemäß § 72 Abs. 1 BbgPolG dem Polizeipräsidium zugewiesen ist (Polizei im institutionellen/organisatorischen Sinne).9 Die Aufgaben des Polizeipräsidiums ergeben sich aus § 78 BbgPolG, und sie umfassen viel mehr als nur die Gefahrenabwehr. Der Begriff der Polizei im institutionellen Sinne und jener der Polizei im materiellen Sinne sind also nur teilweise deckungsgleich. Hinzu kommt, dass das Polizeipräsidium nicht die einzige Behörde in Brandenburg ist, die die Aufgabe der Gefahrenabwehr wahrzunehmen hat. Es teilt sich diese Kompetenz vielmehr mit den Ordnungs- und Sonderordnungsbehörden (vgl. § 1 OBG). Polizei und Ordnungsbehörden arbeiten aufgrund verschiedener Rechtsgrundlagen: insbesondere Ordnungsbehördengesetz bzw. Polizeigesetz. Beide Gesetze ähneln sich aber in weiten Teilen.10
2.3 Strafverfahrensrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht
Strafverfahrens- bzw. Strafprozessrecht ist der Inbegriff derjenigen Normen, die dazu dienen, in einem rechtlich geordneten Verfahren zu ermitteln, ob eine strafbare Handlung vorliegt, und – falls dem so ist – eine strafbare Handlung zu ahnden. Es dient der Durchsetzung des materiellen Strafrechts und ermöglicht der Idee nach, den durch die Straftat gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. Zugleich zieht es den Strafverfolgungsbehörden und damit auch der Polizei Grenzen hinsichtlich ihrer Eingriffsrechte, da Straftaten nur auf rechtsstaatlichem Wege und nicht um jeden Preis aufgeklärt und verfolgt werden sollen.11 Beteiligte des Strafverfahrens sind
– das Subjekt des Verfahrens: Verdächtiger, Beschuldigter, Angeschuldigter und Angeklagter;
– die Verteidigung: in der Regel Rechtsanwälte als Wahl- oder Pflichtverteidiger;
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