Eingriffsrecht Brandenburg. Viktor Nerlich

Eingriffsrecht Brandenburg - Viktor Nerlich


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Hände sind in der Tasche und scheinen einen größeren Gegenstand zu greifen. Plötzlich läuft er auf den Laden zu. Polizist P hat alles beobachtet und hält ihn an, weil er davon ausgeht, M wolle den Juwelier überfallen. Tatsächlich wollte M nur seine Freundin F in Empfang nehmen, die gerade aus dem Geschäft kam.

      Im Gegensatz dazu liegt eine Schein- oder Putativgefahr vor, wenn eine Gefahrenlage allein in der subjektiven Vorstellung des Beamten bestand, also objektiv kein Anlass vorlag, von einem drohenden Schaden für polizeiliche Schutzgüter auszugehen. Die Scheingefahr ist daher keine Gefahr und kann deshalb nicht zur Grundlage für polizeiliche Maßnahmen gemacht werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Polizei schuldhaft gehandelt hat. Zu fragen ist lediglich, ob ein gleichsam objektivierter Beamter aufgrund der Umstände von einer Gefahr ausgehen konnte.39

      Die Zuständigkeit der Polizei für die Verfolgung von Straftaten ergibt sich aus § 1 Abs. 4; § 78 Abs. 1 BbgPolG i.V. mit § 161 Abs. 1 oder § 163 Abs. 1 StPO. Gemäß § 163 Abs. 1 StPO haben die Behörden und Beamten des Polizeidienstes Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub duldenden Anordnungen zu treffen, um eine Verdunkelung der Sache zu verhüten. Diese Norm kommt in Betracht, wenn die Polizei – wie regelmäßig der Fall – im Rahmen des ersten Zugriffs, also aufgrund eigener Kenntniserlangung strafverfolgend tätig wird.40 Sie hat danach unverzüglich die Staatsanwaltschaft zu informieren (§ 163 Abs. 2 Satz 1 StPO), wenn nicht wegen schleuniger Vornahme richterlicher Untersuchungshandlungen die Übersendung an das Amtsgericht notwendig ist (§ 163 Abs. 2 Satz 2 StPO). Gemäß § 161 Abs. 1 StPO sind die Behörden und Beamten des Polizeidienstes darüber hinaus verpflichtet, auf Ersuchen oder im Auftrag der Staatsanwaltschaft strafverfolgend tätig zu werden (Tätigkeit aufgrund Weisung oder im Auftrag der Staatsanwaltschaft). Das ist insbesondere möglich, wenn die Staatsanwaltschaft vor der Polizei Kenntnis von einer Straftat erlangt. Zur Verfolgung von Straftaten ist die Polizei verpflichtet (Legalitätsprinzip); ihre Befugnisse hierbei ergeben sich aus der Strafprozessordnung.

       2.1 Straftat und Tatverdacht

      Tatbestandliche Voraussetzung für die Verfolgung von Straftaten ist das Vorliegen eines Anfangsverdachts einer Straftat. Unter einer Straftat versteht man die tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung, die ein Gesetz mit Strafe bedroht.41 Ein Anfangsverdacht liegt vor, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass eine Straftat begangen wurde (§ 152 Abs. 2 StPO). In der Regel ergibt sich der Anfangsverdacht aus Strafanzeigen, Zeugenaussagen, Spuren oder eigenen Wahrnehmungen der Polizeibeamten. Aufgrund dessen muss es nach kriminalistischer Erfahrung möglich erscheinen, dass eine verfolgbare Tat begangen wurde, selbst wenn der Verdachtsgrad insoweit noch gering sein mag. Lediglich bloße Vermutungen, dass eine Straftat geschehen sei, genügen nicht.42 Der Anfangsverdacht kann sich zu einem dringenden oder hinreichenden Tatverdacht verdichten. Dringender Tatverdacht ist Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls. Er liegt vor, wenn nach dem Stand der Ermittlungen die hohe, d. h. überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte die Straftat als Täter oder Teilnehmer begangen hat.43 Hinreichender Tatverdacht, der für die Eröffnung der Hauptverhandlung vorliegen muss, ist dann zu bejahen, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher ist als ein Freispruch.44 Mangelnder Tatverdacht führt hingegen zur Einstellung des Strafverfahrens (§ 170 Abs. 2 StPO).

       2.2 Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft

      Während sich § 161 und § 163 StPO an die Behörden und Beamten des Polizeidienstes, also an alle Polizisten richten, setzen zahlreiche Eingriffsbefugnisse der Strafprozessordnung voraus, dass sie von Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft angeordnet werden. Wer das ist, ergibt sich aus § 152 GVG in Verbindung mit einer entsprechenden Rechtsverordnung des brandenburgischen Justizministers.45 Bei jeder Maßnahme ist genau zu prüfen, ob sie von allen Angehörigen des Polizeidienstes oder nur von Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft angeordnet werden dürfen.46

      Neben der Strafverfolgung ist die Polizei noch für die Aufklärung von Ordnungswidrigkeiten zuständig. Diese Aufgabe nimmt sie entweder originär oder subsidiär oder auf Ersuchen der originär zuständigen Behörde wahr.

       3.1 Subsidiäre und originäre Zuständigkeit

      Grundsätzlich hat die Polizei alle Ordnungswidrigkeiten zu erforschen, wenn sie davon Kenntnis erlangt. Diese Aufgabe ergibt sich aus § 1 Abs. 4; § 78 Abs. 1 BbgPolG i.V. mit § 53 Abs. 1 Satz 1 OWiG. Sie hat dabei die gleichen Rechte wie bei der Strafverfolgung (§ 53 Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2 OWiG). Allerdings ist ihre Zuständigkeit insoweit auf den ersten Zugriff, also auf feststellende und verfahrenssichernde Maßnahmen beschränkt. Man spricht wiederum von Eilkompetenz oder subsidiärer Zuständigkeit, und man nennt die Polizei in diesem Fall auch Ermittlungs- oder Feststellungsbehörde. Nach dem ersten Zugriff muss sie gemäß § 53 Abs. 1 Satz 3 OWiG die originär zuständige Verwaltungsbehörde i. S. des § 35 OWiG unverzüglich informieren. Diese wird auch Ahndungs- oder Verfolgungsbehörde genannt. Der Ahndungs-/Verfolgungsbehörde obliegt der weitere Verfahrensgang; sie kann das Verfahren einstellen oder einen Bußgeldbescheid erlassen. Dabei hat sie grundsätzlich dieselben Rechte wie die Staatsanwaltschaft und ist „Herrin des Verfahrens“ (§ 46 Abs. 2 OWiG). Aus diesem Grund kann sie sich auch im weiteren Verlauf des Bußgeldverfahrens der Polizei bedienen, indem sie sie gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. mit § 161 Satz 2 StPO zur Vornahme von Ermittlungshandlungen bindend ersucht.47

      In wenigen Ausnahmefällen ist die Polizei aber auch selbst die Verfolgungs- bzw. Ahndungsbehörde, z. B.:48

      – im Bereich bestimmter Ordnungswidrigkeiten gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 der brandenburgischen Rechtsverordnung zur Bestimmung der für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten zuständigen Verwaltungsbehörden nach dem Dritten Teil des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, nach dem Passgesetz und nach dem Personalausweisgesetz (Ordnungswidrigkeitenzuständigkeitsverordnung – OWiZustV);49

      – im Bereich des Straßenverkehrsrechts gemäß § 78 Abs. 1 Satz 2 BbgPolG und § 26 Abs. 1 StVG i. V. mit § 1 der brandenburgischen Rechtsverordnung zur Bestimmung der für die Verfolgung und Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten zuständigen Verwaltungsbehörden (Verkehrsordnungswidrigkeitenzuständigkeitsverordnung – VOWiZustV);50

      – für den Bereich des Waffenrechts gemäß § 4 der oben bereits genannten brandenburgischen Rechtsverordnung zur Durchführung des Waffengesetzes (DVO WaffG);51

      – im Bereich des Versammlungsrechts gemäß §§ 1 f. der oben bereits genannten brandenburgischen Rechtsverordnung zur Übertragung der Zuständigkeiten nach dem Versammlungsgesetz (ZustVO VersamG).52

       3.2 Voraussetzungen für die Zuständigkeit wegen Ordnungswidrigkeiten

      Begrifflich ist unter einer Ordnungswidrigkeit die rechtswidrige und vorwerfbare Handlung zu verstehen, die den Tatbestand eines Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße zulässt (§ 1 Abs. 1 OWiG). Damit die Polizei tätig wird, müssen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Begehung einer Ordnungswidrigkeit, also ein entsprechender Anfangsverdacht vorliegen (§ 152 Abs. 2 StPO


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